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Die Blackbox des Kindeswohls. Die erste Entscheidung des BGH zu § 1686a BGB

Seit Juli 2013 gibt es das Recht des leiblichen Vaters auf Umgang mit dem Kind, wenn rechtlich ein anderer Mann Vater ist und der biologische Erzeuger ernsthaftes Interesse an dem Kind gezeigt hat und wenn der Umgang dem Kindeswohl dient (§ 1686a BGB). Jetzt entschied der BGH den ersten Fall dazu (Beschluss XII ZB 280/15 vom 5.10.2016) – auf eine Rechtsbeschwerde desselben Mannes, der sein Umgangsrecht seit 2006 durch alle Instanzen verfolgte bis hin zum Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von 2010, das wiederum die Einführung des § 1686a BGB zur Folge hatte. Wie problematisch ein derartiges Umgangsrecht eines biologischen Erzeugers, der nie mit dem Kind zusammengelebt hat, gegen den Willen der Eltern sein kann, zeigt der Fall in aller Deutlichkeit.

Die Eltern lehnten den Umgang ab und klärten die Kinder nicht über den biologischen Erzeuger auf –  and so what?

Der Antragsteller hatte mit der verheirateten Mutter etwa zwei Jahre zusammengelebt, die zu ihrem Ehemann (mit dem sie schon drei Kinder hatte) zurückkehrte, als sie fünf Monate schwanger war; Ende 2005 wurden Zwillinge geboren, deren rechtlicher Vater der Ehemann ist. Der biologische Erzeuger verlangte von Anfang an Umgang mit den Kindern, den die Eltern ablehnten. Nach Einführung des § 1686a BGB beantragte er erneut eine Umgangsregelung, die das Amtsgericht gewährte und das OLG zurückwies. Nun musste der BGH über die Rechtsbeschwerde entscheiden.

Die Eltern verweigerten den Umgang und haben die Kinder auch nicht über ihren möglichen biologischen Erzeuger aufgeklärt. Das ist ihr gutes Recht, das auch durch Art. 6 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützt ist. Zwar plädieren pädagogische und psychologische Expert_innen für eine möglichst frühzeitige Aufklärung von Kindern über ihre Herkunft, etwa wenn es sich um Adoptivkinder oder auch durch künstliche Insemination gezeugte Kinder handelt. Dennoch bleibt es das Recht von Eltern, sich gegen pädagogische Ratschläge für ein ‚Familiengeheimnis‘ zu entscheiden. Das hatten die Eltern getan und den Umgang mit der Begründung abgelehnt, dass dies sie psychisch überfordern und damit auch das Kindeswohl mittelbar beeinträchtigt würde.

So rückte die Frage der Kindeswohldienlichkeit in den Mittelpunkt – wobei bereits das OLG vor dem Dilemma stand, wie man dies nun bestimmen sollte, noch dazu wo die Kinder nichts von dem leiblichen Erzeuger wussten (woran man angesichts des Presserummels um die nunmehr 11-jährigen Zwillinge Zweifel haben kann, aber das ist rechtlich irrelevant). Das Gericht war in einer Zwickmühle: Wie sollte das Kindeswohl beurteilt werden ohne das Elternrecht (inklusive Familiengeheimnis) zu verletzen? Das OLG beauftragte einen psychologischen Sachverständigen; den Kindern wurde das Gespräch, das Grundlage des Gutachtens war, dann als ‚Zwillingsforschung‘ verkauft. Am Ende lehnte das OLG auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens den Umgang als nicht kindeswohldienlich ab.

Verfahrensfehler – Muss nun das Gericht das Kind über die ‚wahre Abstammung‘ aufklären? Experimentelle Kindeswohlprüfung im Gerichtsverfahren

Der BGH hat die OLG-Entscheidung aufgehoben und zurückverwiesen mit der Begründung, dass die strengen verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht eingehalten wurden, die anzulegen sind, wenn Eltern sich darauf berufen, sie seien mit dem Umgang psychisch überfordert, es könne die Familie destabilisieren, und dies sei nicht kindeswohldienlich. Kinder müssten auch im Umgangsstreit mit dem biologischen Erzeuger vom Familiengericht grundsätzlich persönlich angehört werden. Und damit ihnen dann klar ist, worum es geht, soll das Gericht die Kinder (bei entsprechender Reife, noch eine schwierige Feststellung) über die ‚wahre Abstammung‘ unterrichten (was auch dadurch geschehen kann, dass das Gericht den Eltern eine Frist dafür setzt oder eine psychologisch versierte Mittelsperson dazu einsetzt). Über die ‚wahre Abstammung‘ wurde dann schon mal aufgeklärt, und dann – ein interessantes Experiment – wird man sehen, wie die Zwillinge reagieren. Dazu, wie die den Umgang verweigernde Mutter reagieren könnte, hatte sich der psychologische Sachverständige schon geäußert (ausgeprägte Angstsymptome, Möglichkeit der Dekompensation bis hin zum Nervenzusammenbruch). Dies hatte das vorinstanzliche OLG als nicht kindeswohldienlich bewertet. Das hat der BGH nicht als rechtsfehlerhaft beurteilt, sondern Verfahrensfehler bei den  Feststellungen des Kindeswohldienlichkeit in den Mittelpunkt gerückt. Die wird das OLG dann in der nächsten Runde korrigieren müssen – und dann wieder entscheiden, ob der Umgang mit dem biologischen Erzeuger, den die Zwillinge noch nie gesehen haben, dem Kindeswohl dient.

Schwarz-Weiß-Denken? Die Bedeutung der Hautfarbe für die Kindeswohldienlichkeit des Umgangs

Die unter 14-jährigen Kinder hätten persönlich angehört werden müssen, so der BGH, weil deren Neigungen, Bindung und Wille für die Entscheidung des OLG eine Rolle spielten, wie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zeige – so weit, so gut die Auslegung von § 159 Abs.2 FamFG über die Voraussetzungen, unter denen ein Kind anzuhören ist. Aber wozu genau hätten sich die Kinder äußern sollen? Das muss die Richter_in ausprobieren und findet es vielleicht auch erst im Verlauf des Gesprächs heraus, sagt der BGH. Und hier kommt die Hautfarbe ins Spiel – vielleicht wissen sie ja doch etwas darüber, dass ihr rechtlicher Vater nicht ihr biologischer Erzeuger sein kann, denn der stammt aus Nigeria und ist schwarz, und vielleicht sieht man das den Kindern an (obwohl das laut Sachverständigengutachten nicht auf den ersten Blick der Fall ist). Falls man ihnen die afroeuropäische Abstammung ansieht, wäre dies möglicherweise auch ein Grund den Umgang zum Wohle des Kindes anzuordnen. Dahinter steht offenbar das Argument, dass die Kinder sowieso nach ihrem biologischen Vater gefragt würden, wenn an ihrer Hautfarbe erkennbar wäre, dass der rechtlich-soziale Vater nicht der biologische Erzeuger sein könnte. Dass Kinder dann danach fragen könnten, ist einleuchtend, aber es ist nicht rechtlich zwingend, dass ein Umgangsrecht die kindeswohldienliche Konsequenz ist (ein Auskunftsanspruch des Kindes tut es ja auch). Und was wäre, wenn es den Kindern nicht auf den ersten Blick anzusehen ist? Die Hautfarbe kann ja wohl nicht entscheidungserheblich für die Kindeswohldienlichkeit des Umgangs sein, alles andere wäre diskriminierend.

Und was ist daran kindeswohldienlich? Jetzt haben wir den Salat

Der Anspruch des biologischen Erzeugers auf Umgang besteht nur dann, wenn der Umgang kindeswohldienlich ist, und das muss positiv dargelegt werden. Das scheint im vorliegenden Fall aus dem Blick zu geraten.

Der Gesetzgeber hat 2013 bei Einführung des § 1686a BGB ohne Not eine unausgegorene Regelung eingeführt, die letztlich die Grundrechte der Eltern und die Bedürfnisse des Kindes an psychosozialer Stabilität und stabilen Familienbeziehungen den Interessen des biologischen Vaters an Umgang unterordnet, selbst wenn dieser niemals eine sozial-familiäre Beziehung mit dem Kind hatte. Die Kritik daran formulierte die Kinderrechtekommission des Deutschen Familiengerichtstags bereits en detail 2012 – es ist Zeit für eine grundlegende Reform, nicht für widersprüchliches Stückwerk wie den § 1686a BGB.

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Kirsten Scheiwe

Kirsten Scheiwe ist Professorin für Recht am Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Familien- und Sozialrecht, Rechtsvergleich, Gender Studies, Sozial- und Familienpolitik.

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Kirsten Scheiwe

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