Literatur und juristische Aufarbeitung – anlässlich des Symposiums Gedächtnis und Gerechtigkeit

Juristische Aufarbeitung ist unabdingbar, um Menschenrechtsverletzungen in bewaffneten Konflikten und unter Militärdiktaturen zu bewältigen. Die Komplexitäten struktureller Gewalt und sozio-ökonomischer Diskriminierung können in den auf Individuen ausgerichteten Strafverfahren etwa weder erfasst noch verändert werden. Graustufen zwischen Täter_in- und Opferschaft sind nicht abbildbar. Welchen Beitrag können literarische Texte bei der Aufarbeitung massiver Gewalt und der Wahrheitssuche leisten? Diese und weitere Fragen wurden beim Symposium Gedächtnis und Gerechtigkeit diskutiert.

Das Berliner Symposium Gedächtnis und Gerechtigkeit

Vom 29. September bis zum 1. Oktober 2016 fand in der Akademie der Künste und mit organisiert und kuratiert vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) das Symposium Gedächtnis und Gerechtigkeit statt. Kunstausstellungen im Foyer, Lesungen und Filmvorführungen wechselten sich ab mit Podiumsdiskussionen über Bedeutung, Funktion und (Wechsel-)Wirkung von Kunst, Recht und Zivilgesellschaft angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen und Gewalterfahrungen (zum Programm).

Literatur und hegemoniale (Erinnerungs-)Diskurse

Massive staatliche oder staatlich geduldete Gewalt gegen Menschen geht zumeist Hand in Hand mit hegemonialen Diskursen, die diese Gewalt ermöglichen, umdeuten, legitimieren, verharmlosen oder tabuisieren. Diffamierungen und Hassreden gegen spezifische Gruppen vermögen unheimliche Verschiebungen von Schuld und Verteidigung. Hegemonial gewordene kollektive Erinnerung ist nicht nur wirkmächtig, sondern auch träge. Besonders gelungen ist die Verharmlosung und Tabuisierung systematischer Gewalt, ihre Umdeutung und damit ihre Unsichtbarmachung, wenn es um sexualisierte Gewalt in bewaffneten Konflikten geht. Eine gesellschaftliche Aufarbeitung von massiven Menschenrechtsverletzungen kann deshalb nur dann eine tragfähige Grundlage für ein friedliches Zusammenleben schaffen, wenn die den Konflikt schürenden Diskurse sowie die sich anschließenden Erinnerungsdiskurse mit einbezogen und kontinuierlich kritisch reflektiert werden.

Welche Rolle kann nun spezifisch die Literatur im Unterschied zu Gerichtsverfahren bei der Bewältigung und Aufarbeitung von Gewalt spielen? Inwiefern können literarische Texte hegemoniale (Erinnerungs-)Diskurse kritisch reflektieren? Ausgehend von ihren eigenen Werken diskutierten dies die Autor_innen Gila Lustiger, Ilija Trojanow und Erich Hackl bei einer von Peter Seibert moderierten Podiumsdiskussion mit dem Titel Gericht und Gedächtnis.

Erich Hackls Roman Sara und Simón und Ilija Trojanows Roman Macht und Widerstand

Als Erich Hackl 1995 die erste Fassung seines Romans Sara und Simón (Diogenes) veröffentlichte, hatte in Argentinien bereits die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur der siebziger Jahre begonnen. Die Großmütter der Plaza de Mayo hatten die ersten Kinder wiedergefunden, die ihren verschleppten Müttern weggenommen und unter Verschleierung ihrer Identität von häufig systemtreuen Familien adoptiert wurden. In Uruguay jedoch war noch das 2010 vom Interamerikanischen Gerichtshof für menschenrechtswidrig erklärte Amnestiegesetz in Kraft, das eine gesellschaftliche und im spezifischen juristische Aufarbeitung der begangenen Verbrechen behinderte. In seinem Roman beschreibt er die Suche der uruguayischen Oppositionellen Sara Méndez nach ihrem Sohn Simón, der ihr bei ihrer Verschleppung durch die Geheimdienste der beiden Länder gewaltsam weggenommen worden war und ihren Kampf auch um rechtliche Aufarbeitung des ihr und ihrem Sohn widerfahrenen Unrechts. Im Gespräch beschrieb Erich Hackl die Möglichkeit von Literatur, öffentliche Debatten anzustoßen oder sich spezifisch einzubringen.

Wie Erich Hackl hatte auch Ilija Trojanow für seinen Roman vor Ort akribisch Recherchen betrieben, Dokumente studiert und Zeitzeug_innen befragt. In der Doku-Fiktion Macht und Widerstand (Fischer 2015) entfaltet er kontrapunktisch verdichtet die Erinnerungen eines Dissidenten und eines Angehörigen der bulgarischen Staatssicherheit. Collageartig integriert sind Originaldokumente aus dem Archiv der bulgarischen Staatssicherheit, die bis zur Veröffentlichung des Romans nur zeitweise teilweise überhaupt zugänglich waren und über einen Militärattaché aus dem Land verbracht worden waren.

 Multiperspektivisches Erzählen und Gegen-Narrative in der Literatur

Juristischen Verfahren liegt die Prämisse einer objektiv ermittelbaren Wahrheit zugrunde. Demgegenüber kann Literatur mit unterschiedlichen Perspektiven arbeiten und so die Relativität von Wahrheit in Abhängigkeit vom jeweiligen sozio-historischen Kontext und in Abhängigkeit vom individuell Erlebten darstellen. Ilija Trojanows multiperspektivisch erzählter Roman Macht und Widerstand, der 1999 einsetzt spiegelt diese Relativität exzellent. Mithin kann ein Mehrwert literarischer Texte darin liegen, an die politische und soziale Kontextabhängigkeit der Verfahren und der jeweils ermittelten Wahrheiten zu erinnern.

Literatur könne an die Stelle von Straflosigkeit treten, auf die Straflosigkeit hinweisen, Öffentlichkeiten und Mehrheiten für die Ansicht schaffen, dass eine juristische Aufarbeitung bestimmter Gewalttaten nötig sei, eine politische Intervention sein, so Ilija Trojanow. Durch sie könnten aber auch Mythen dekonstruiert werden. Hegemonialen Diskursen könnten alternative Wahrheiten entgegengesetzt werden. Im besten Sinn können literarische Texte also auch zur Aufarbeitung der die Gewalt schürenden Diskurse sowie auch zu einer kontinuierlichen kritischen Reflexion der Erinnerungsdiskurse beitragen.

Schreiben als menschliche Geste

Insbesondere Jurist_innen, die sich mit strategischer Prozessführung beschäftigen, aber auch jenen Personen, die von struktureller Gewalt Betroffene beraten, stellt sich immer wieder das Dilemma zwischen notwendiger gesellschaftlicher Veränderung und den Bedürfnissen der Betroffenen. Auf die Frage nach der Bedeutung von Literatur bei Aufarbeitung von Unrecht antwortend, äußerte Erich Hackl zugespitzt, er habe seinen Roman Sara und Simón ausschließlich für eine einzige Person geschrieben, nämlich für Sara Méndez. Den Blick so radikal auf das Individuum zurück zu richten, diese menschliche Geste in Empathie, ist denke ich ein weiterer Aspekt, der eine bereichernde Erfahrung sein kann für mit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen befassten Jurist_innen. Es bleibt zu hoffen, dass die Organisator_innen und finanziellen Förderer, die Akademie der Künste, der ECCHR sowie die Bundeszentrale für politische Bildung das Symposium erneut kuratieren und durchführen werden.

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