Die Würde des Menschen ist antastbar

Was bleibt eigentlich übrig von der Würde des Menschen, wenn das, was bereits als das absolute Minimum konzipiert ist, gekürzt wird? Mit dieser Frage hätte sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 05.11.2019 zu Sanktionen innerhalb der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ im SGB II („Hartz IV) beschäftigen können. Doch in seiner Urteilsbegründung fließen überwiegend Überlegungen zur Effektivität der Sanktionen ein, die im Ergebnis zu einem widersprüchlichen und grundrechtlich problematischen Urteil führen.

Insbesondere seit der Einführung der sogenannten „Hartz IV-Reform“ mit der ihr zugrundeliegenden Maxime des „Förderns und Forderns“ ist der Umgang mit Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch eine bezahlte Erwerbstätigkeit bestreiten können, immer wieder Thema in medialen Debatten. „Fordern“ hieß hier in den letzten 14 Jahren vor allem, dass Menschen, die sich nicht bedingungslos den Vorgaben der JobCenter unterworfen haben, ihre Leistungen gekürzt wurden. Leistungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das menschenwürdige Existenzminimum sichern sollen. In seinem jüngsten Urteil relativiert das Bundesverfassungsgericht diese verfassungs- und richterrechtlichen Vorgaben – und damit auch die Menschenwürde.

Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Geklagt hatte eine Person aus Thüringen, die als „Arbeitssuchender“ Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus dem zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) bezog. Nachdem er sich weigerte, einer Lohnarbeit nachzugehen, für die er nach Ansicht des JobCenters „geeignet“ war, wurden seine Leistungen, entsprechend der Vorgaben im SGB II, zunächst um 30% und nach einem weiteren „Verstoß“ um 60% gekürzt. Möglich wäre in einem nächsten Schritt nach § 31a SGB II noch die vollständige Kürzung der Leistungen gewesen. Dann wären selbst die Kosten für Wohnung und Heizung weggefallen.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass Sanktionen bei Personen über 25 Jahren (mit den noch schärferen Sanktionen für Personen unter 25 Jahren hat sich das Gericht nicht beschäftigt), die eine Kürzung der Leistung von über 30% zur Folge haben, unzulässig sind. Entscheidend für das Urteil war dabei die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verankerte „Würde des Menschen“, aus der in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG ein Anspruch auf „Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ hergeleitet wird.

In seiner Urteilsbegründung legt das Gericht zunächst sehr ausführlich dar, dass der Staat die Verpflichtung hat, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren (Rn. 118 ff.). Dieses gesetzlich festgelegte Minimum kann wiederum – etwas anderes wäre auch rein logisch inkonsequent – auch nicht minimal unterschritten werden, ohne dass dabei die „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde relativiert würde. Dieses Argument wird noch verstärkt, indem das Gericht feststellt, dass diese Sicherung des Existenzminimums auch nicht an ein bestimmtes Verhalten geknüpft werden dürfe, also gerade auch bei „vermeintlich unwürdigem“ Verhalten oder „schwersten Verfehlungen“ des Einzelnen weiterhin gewährt werden muss (Rn. 119). Es ist, und das macht Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG klar („Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“), gerade Aufgabe des Staates, die Würde des Menschen zu schützen und nicht die Aufgabe des Einzelnen, sich diese durch ein bestimmtes Verhalten zu erarbeiten.

Wer das Urteil bis hierher liest, muss eigentlich geradezu zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen, dass jede Form von Sanktionierung, die eine Minderung unter das menschenwürdige Existenzminimum zur Folge hat, verfassungswidrig ist. Doch das Bundesverfassungsgericht vollzieht im Anschluss (Rn. 139 ff.) eine grund- und menschenrechtlich problematische und logisch kaum nachvollziehbare Kehrtwende.

„Überwindung der Hilfsbedürftigkeit“

Das Gericht verknüpft, weitestgehend unhinterfragt, Mitwirkungspflichten von Leistungsempfänger*innen mit den im SGB II verankerten Sanktionen (Rn. 154). Da nun die Mitwirkungspflichten zur „Überwindung der Hilfsbedürftigkeit“ verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind – so die Argumentation des Gerichts – sind es auch die Sanktionen, sofern sie ebenfalls diese Überwindung zum Ziel haben und dafür geeignet sind (Rn. 131).

Diese Argumentationskette führt in ihrer Konsequenz dazu, dass die Kürzungen um 60% und 100%, die als verfassungswidrig verworfen wurden, nicht deshalb verworfen wurden, weil sie den Betroffenen ihr menschenwürdiges Existenzminimum nehmen und somit die Menschenwürde verletzen, sondern weil diese Kürzungen nicht dem Ziel – der „Überwindung der Hilfsbedürftigkeit“ – dienen (Rn. 189, 194). Das entscheidende Argument ist hier also die geminderte Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die von diesen extremen Sanktionen betroffen sind, tatsächlich wieder der kapitalistischen Verwertung auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dabei schließt das Gericht nicht aus, dass auch Sanktionen mit einer Minderung um 60% verfassungsgemäß seien, sofern belastbare Nachweise dafür erbracht werden, dass dies der „Eingliederung in den Arbeitsmarkt“ dienen (Rn. 193). Selbst der vollständige Wegfall von existenzsichernden Leistungen ist, dem Gericht zu Folge, prinzipiell vertretbar, „solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern“ (Rn. 209). Die Frage, wie unter diesen Voraussetzungen ein menschwürdiges Leben aussehen soll, bleibt leider auch an dieser Stelle des Urteils offen.

Was bleibt: 70% der Würde des Menschen sind unantastbar

Natürlich ist es erfreulich, dass die härtesten Sanktionen von über 30% Minderung und starre Sanktionszeiträume nun zunächst nicht mehr angewendet werden dürfen. Für Menschen, die auf die Leistungen aus dem SGB II angewiesen sind bzw. schon von einer solchen Sanktion betroffen sind, dürfte dies eine große Erleichterung sein. Doch die Freude darüber wird erheblich geschmälert durch ein widersprüchliches Urteil, das Sanktionen mit Kürzungen bis 30% weiterhin zulässt und die Menschenwürde bei seiner Begründung weitestgehend unberücksichtigt lässt. Dass der Dachverband der Arbeitgeber*innen sich unmittelbar nach dem Urteil erfreut darüber zeigt, dass Sanktionieren auch weiterhin möglich sein wird, ist dabei entlarvend für die politische und wirtschaftliche Wirkung des Urteils. In dem System des „Förderns und Forderns“ des SGB II kommt den Sanktionen eine essentielle Bedeutung zu. Dieses System zwang Menschen dazu, jede „geeignete“ Lohnarbeitsstelle unabhängig von der Höhe des Arbeitslohns und der Arbeitsbedingungen anzunehmen und wird dies nach dem Urteil des BVerfG auch weiterhin tun. Dieses System wird die deutsche Wirtschaft auch weiterhin mit billigen Arbeitskräften versorgen und den Abstiegs- und Leistungsdruck auf Arbeitnehmer*innen in Arbeitsverhältnissen mit verhältnismäßig guten Arbeitsbedingungen aufrechterhalten.

Menschen werden nach diesem Urteil auch weiterhin mit Leistungen unterhalb des menschenwürdigen Existenzminimums auskommen müssen. 30% Minderung unter das menschwürdige Existenzminimum bleiben erlaubt und bedeuten auch weiterhin Leistungen 30% unter dem menschenwürdigen Existenzminimum. Diese simple und tautologische Feststellung fehlt in dem Urteil des Gerichts. Die Minderungen der Leistungen werden, so hat es das Gericht selbst in diesem Urteil eingangs festgestellt (Rn. 119), die Unantastbarkeit der Menschenwürde weiterhin relativieren.

Die Klage wäre die Chance gewesen, den Schutz der Würde der Menschen, die sowieso schon am (gesetzlich festgelegten) Existenzminimum und unter erheblichem Druck durch Gesellschaft und JobCenter leben, zu stärken. Diese Chance ist nun zunächst vertan. Es bleibt der Wunsch, das Bundesverfassungsgericht hätte einen Satz aus der eigenen Pressemitteilung zum Urteil bei seiner Entscheidung ernsthaft berücksichtigt:

„Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Sanktion der vorübergehenden Minderung existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen.“

 

 

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