Das indische Verfassungsgericht hat in einem Urteil Anfang Oktober 2018 anerkannt, dass eine der größten Paradoxien im indischen Strafrecht nicht mit der Verfassung vereinbar ist. Section 375, Exception 2 Indian Penal Code (IPC) räumte bislang Ehemännern einen Freifahrtschein zur Vergewaltigung ein. Eine Kinderrechtsorganisation klagte dagegen, dass dies auch für Mädchen ab 15 Jahren gelten soll, während die Heirat an sich erst ab einem Alter von 18 Jahren legal ist.
Konsensualer Sex, aber nicht für alle
Die Bilder der 23-jährigen Jyoti Singh, die 2012 in Neu-Delhi von mehreren Männern zu Tode vergewaltigt wurde, sind noch im kollektiven Gedächtnis präsent. In einem fast überstürzt anmutenden Gesetzgebungsverfahren wurde als Konsequenz auf den sogenannten „Nirbhaya-Case“ der Criminal Law (Amendment) Act, 2013 verabschiedet. Im Zuge dieser Reformation des indischen Sexualstrafrechts, wird auch Section 375 IPC erneuert, der definiert, welche sexuelle Handlungen als Vergewaltigung gelten. Wobei „Penetration“ als notwendige Bedingung gestrichen wurde und aktiv signalisierter Konsens in den Mittelpunkt der Norm gerückt ist. Aufgrund der Exception 2 des 375 IPC profitiert jedoch eine Gruppe nicht von der insgesamt positiven Erneuerung der Norm: die Ehefrauen. Sex in der Ehe gilt weiterhin nicht als Vergewaltigung, ob konsensual oder eben nicht. Anlass der Klage war jedoch alleine der Umstand, dass dies auch für Ehefrauen ab dem 16. Lebensjahr gilt.
Eine arbiträre Regelung
Die Klägerin „Independent Thought“, eine in verschiedenen Themenfeldern agierende nationale NGO, führt gegen die Regelung an, dass sie arbiträr sei. Das ist sie in der Tat. Nicht nur aus einer rein menschlichen Perspektive erscheint es willkürlich, dass eine Minderjährige den Vergewaltigungen ihres Ehemanns schutzlos ausgesetzt sein soll, widersprüchlich erscheint sie auch im Vergleich zu zahlreichen indischen Gesetzen.
Auf konstitutioneller Ebene ist insbesondere der Art. 15 (3) Constitution of India hervorzuheben, in welchem der Schutz von Mädchen und Frauen Privilegierung erfährt. Die hier diskutierte Ausnahme kollidiert mit „dem Schutz der Mädchen und Frauen“, einem Gut von Verfassungsrang.
Auch einfachgesetzlich ist bereits die Eheschließung für Minderjährige eigentlich nicht erlaubt. Im indischen Privatrecht stehen staatliche und religiöse Regelwerke pluralistisch nebeneinander. Allerdings sind sowohl im Hindu Marriage Act, 1955 (seit dem Amendment von 1978) als auch im staatlichen Child Marriage Act, 2006 18 Jahre für Frauen und 21 Jahre für Männer als Mindestalter festgelegt (Hindus sind mit ca. 80 % die größte religiöse Gruppe des Landes).
Das Phänomen Kinderehen und der soziale Status
Trotz dieses Verbotes werden in Indien ein Drittel der 700.000 weltweit geschlossenen Kinderehen gezählt. In zahlreichen Reporten, z.B. von UNICEF India (2016) und Young Lives, wird ein klarer Zusammenhang zwischen geringem ökonomischen Status und der Anzahl minderjähriger Ehefrauen deutlich. Darüber hinaus wird festgestellt, dass die Sterblichkeit in der Altersgruppe der 15- bis 19-jährigen Mädchen mit ihrem Familienstatus korreliert. Ein Umstand, der neben der allgemein schlechteren Gesundheitsversorgung armer Menschen aus der besonderen Gefahr von Schwangerschaften im jugendlichen Alter resultiert. Dies sind Argumente, welche auch im Urteil aufgegriffen werden. Neben dem offensichtlichen Widerspruch, in dem die fragliche Ausnahmeregelung zu geltendem Recht steht, werden somit insbesondere die volkswirtschaftlichen Nachteile in den Mittelpunkt gerückt, welche sich aus der in Kinderehen begründeten Armutsspirale speisen.
Kinderehen, schlecht fürs Image
Die immense Anzahl der in Indien geschlossenen Ehen mit Minderjährigen führt dazu, dass das Phänomen internationale Aufmerksamkeit erlangt. Zuletzt öffentlichkeitswirksam auf dem „UNITED NATIONS HUMAN RIGHTS COUNCIL“ im September 2017, wo mehrere Länder in einem Bericht Indien dazu aufforderten, die Ausnahme für Ehefrauen aus Sec. 375 IPC zu entfernen. Während „die größte Demokratie der Welt“ sonst häufig auf internationalem Parkett glänzen kann, ist das Thema Kinderehen auch auf zwischenstaatlicher Ebene ein kritisches.
Die Erfüllung völkerrechtlicher Verträge, wie der Convention on the Rights of the Child (CRC) und der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) finden ebenfalls in der Urteilsfindung Beachtung. Beide sind durch den Protection of Human Rights Act, 1993 in das indische Recht integriert. Dass sich der oben genannte Bericht gegen die gesamte Exception 2 wendet, wird jedoch nicht aufgegriffen, was allerdings durch den eingeschränkten Klageinhalt zu begründen ist.
Die „many shades“ eines würdevollen Lebens
„Life has many shades. Good health is the raison d’être of a good life.“ schreibt Judge Deepak Gupta in seiner Urteilsbegründung. Ein – wenn man die deutsche Rechtssprache gewöhnt ist – fast poetisch anmutender Satz. Emotionalität und eingängige Sprache sind jedoch üblich im indischen Rechtswesen. Eindringlich appelliert der Verfassungsrichter hier dafür, dass nur gesunde Mädchen zu physisch, psychisch und wirtschaftlich unabhängigen, selbstversorgenden Frauen heranwachsen können. Doch hinter den berührenden Worten steckt auch ein ökonomisches Argument, in dem schlussendlich die Würde der Frau hinter ihrem volkswirtschaftlichen Gegenwert zurücktritt. Das Urteil ist deshalb zwar Kinderrechte betreffend wegweisend, sogar ein Erfolg auf voller Linie. Der Umstand, dass der umfassende Schutz der sexuellen Integrität indischer Frauen nicht Teil der Urteilsbegründung der beiden Richter werden konnte, ist trotzdem zu bedauern.
Kann es das gewesen sein?
Wünschenswert wäre, dass das aktuelle Urteil nur ein erster Schritt bleibt. Denn auch wenn es das indische Sexualstrafrecht seit dem Amendment 2013 insbesondere durch die Anforderungen an Konsens schafft, den Willen des Opfers und nicht den Vorsatz des Täters oder die konkrete Handlung in den Mittelpunkt zu stellen, muss sich für einen tatsächlichen Effekt auch die Lebensrealität der Frauen in Indien verbessern. Fragen nach ökonomischen und edukativen Voraussetzungen im Zusammenhang mit Rechtsmobilisierung müssen dringend gestellt werden. Und insbesondere auch das Recht muss erkämpft und stetig weiterentwickelt werden. Das zeigt auch ein Blick in die deutsche Rechtsgeschichte: Auch in der Bundesrepublik ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar, 20 Jahre dauerte der erbitterte Kampf für eine solche Rechtsänderung. Auf der indischen Agenda sollten die erwachsenen Ehefrauen nun ganz oben stehen. Denn ein Trauschein ist kein Freifahrtschein für Vergewaltigung – egal ob minderjährig oder nicht.