Im Working Paper No. 25 gehen die Autorinnen der Frage nach, wie sich institutioneller Rassismus gegen Rom*nja bei der Vergabe von Sozialleistungen äußert. Bei der Beantwortung wird deutlich: Zum einen begünstigt die derzeitige Sozialrechtslage antiziganistische Diskriminierung; zum anderen können von Antiziganismus betroffene Menschen bei der Anwendung rechtlicher Vorschriften durch die Leistungsbehörden Diskriminierung erfahren.
Ausgangspunkt: Dokumentierte Vorfälle antiziganistischer Diskriminierung
Dass es im Kontakt mit dem Jobcenter und anderen Leistungsbehörden immer wieder zu Vorfällen rassistischer Diskriminierung kommt, ist bereits seit längerem bekannt. Der Verein Amaro Foro e.V. dokumentiert seit mehreren Jahren antiziganistische Vorfälle in Berlin und veröffentlicht einen jährlichen Bericht, in dem diese Fälle zusammenfassend dargestellt und eingeordnet werden (zuletzt „5 Jahre Dokumentationsstelle Antiziganismus – Ein Rückblick“).
Mit dem Ende des Sommersemesters 2020 ist der 11. Zyklus der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte erfolgreich beendet wurden. Auch in diesem Zyklus haben die Teilnehmer*innen herausragende Arbeiten verfasst, die wir in unserer Working Paper Reihe veröffentlichen wollen. Da die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie auf absehbare Zeit eine physische Veröffentlichung verhindern, haben wir uns dazu entschieden, die Working Paper dieses Jahr zunächst nur digital zu veröffentlichen. Alle zwei Wochen werden wir von nun an ein neues Working Paper, begleitet von einem kurzen Blog-Beitrag der Autor*innen, auf dem Grundundmenschenrechts-Blog veröffentlichen. Alle bis jetzt veröffentlichten Working Paper finden Sie hier.
Ausgehend von diesen dokumentierten Fällen haben wir in unserem Working Paper verschiedene Fallgruppen gebildet, anhand derer diskriminierende Handlungsformen systematisch dargestellt werden. Dazu gehören Behinderungen bei der Antragstellung durch die Mitarbeiter*innen, das Anfordern irrelevanter Unterlagen oder die Verweigerung von Auskünften und Fehlinformationen. Die diskriminierende Vergabepraxis bei Leistungsbehörden beruht dabei nicht nur auf dem diskriminierenden Verhalten einzelner Mitarbeiter*innen, sondern ist institutionell verankert, wie die interne Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit zur „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“, die wir in unserem Working Paper analysieren, exemplarisch verdeutlicht.
Diskriminierende Sozialrechtslage
Das Working Paper geht darüber hinaus der Frage nach, inwiefern die geltende Sozialrechtslage an der diskriminierenden Vergabepraxis mitwirkt.
Nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen sind in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts nach geltendem Recht nahezu vollständig vom Sozialleistungsbezug ausgeschlossen, sowohl von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II als auch von der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII (die konkreten Ausschlusstatbestände finden sich in § 7 I 2 Nr. 1, 2 SGB II und in § 23 III 1 Nr. 1-4 SGB XII). Die Ausschlusstatbestände gelten in dieser Form seit einer Gesetzesverschärfung im Jahr 2016. In dem Working Paper wird der Streit um die Verfassungs- und Europarechtskonformität dieser Ausschlüsse nachgezeichnet. Der EuGH hat die pauschalen Leistungsausschlüsse inzwischen als mit den Rechten, die sich aus der Unionsbürgerschaft ergeben, vereinbar erklärt (s. Dano, Alimanovic und Garcia-Nieto). Grundrechtlich ist die geltende Rechtslage allerdings weiterhin insbesondere mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 I i.V.m. Art. 20 I GG nur schwerlich vereinbar.
Zudem werfen wir einen Blick auf den politischen Kontext dieser Debatten: Der politische und mediale Diskurs über die sozialen Teilhaberechte von Unionsbürger*innen ist stark geprägt von antiziganistisch aufgeladenen Narrativen. In dem Working Paper werden diese Narrative genauer beleuchtet, um aufzuzeigen, dass die Schaffung der verschärften Ausschlusstatbestände im deutschen Sozialrecht auch auf diesen von antiziganistischen Zuschreibungen geprägten politischen Diskurs zurückzuführen ist.
Erkenntnisse des Working Papers
Die Untersuchung in unserem Working Paper hat verdeutlicht: Antiziganistische Diskriminierung beim Bezug von Sozialleistungen ist auf rechtlicher und tatsächlicher Ebene weit verbreitet, jedoch bisher kaum erforscht. Die diskriminierende Rechtsanwendung steht im engen Zusammenhang mit gesellschaftlich weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber von Antiziganismus betroffenen Personen und der von antiziganistischen Stereotypen geprägten öffentlichen Debatte über soziale Teilhaberechte von Unionsbürger*innen aus Ost- und Südosteuropa.
Besonders akuter Handlungsbedarf besteht darin, zu verhindern, dass antiziganistisch stigmatisierende rechtswidrige Arbeitsanweisungen an die Jobcenter – wie das in dem Working Paper analysierte Dokument – weiterhin zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist eine Abschaffung der geltenden sozialrechtlichen Ausschlusstatbestände für nicht erwerbstätige EU-Bürger*innen erforderlich, die grundrechtliche Mindeststandards verletzen und gerade die vulnerabelsten Gruppen am härtesten treffen.