Es kommt fast ein bisschen zu gelegen: Kurz nach dem Paukenschlag der Entscheidung zur dritten rechtlichen Geschlechtsoption des Bundesverfassungsgerichts äußert sich das Gericht erneut zum Thema Geschlecht im Recht und nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Begutachtungspflicht nach dem „Transsexuellengesetz“ (TSG) nicht zur Entscheidung an. Wohlgemerkt ohne große Beachtung der Medien. Dabei erwecken gerade die Entwicklungen im Bereich LGBTI*Themen in Medien, Politik und Justiz den Eindruck, dass wir uns in einer Zeit des Umbruchs befinden: Erst die „Ehe für alle“, dann das dritte Geschlecht. Der neuste Beschluss des BVerfG spricht leider eine ganz andere Sprache.
Der Sachverhalt
Die betroffene Person hatte sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Versagung der beantragten Änderung ihres Vornamens (§ 1 TSG) und ihres personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrags (§ 8 TSG) gewandt und damit mittelbar gegen § 4 Abs. 3 TSG, wonach für beide Änderungen die Einholung von zwei Sachverständigengutachten erforderlich ist. Die Begutachtungspflicht würde die Person in ihren Grundrechten verletzen und sei somit verfassungswidrig. Besagte Vorschrift setzt voraus, dass – um die Voraussetzungen für eine Vornamens- oder Personenstandsänderung zu beweisen – zwei unabhängige Sachgutachter_innen bescheinigen, dass sich das Zugehörigkeitsempfinden der Person „zu dem anderen Geschlecht“ nicht mehr ändert. In der Realität ist diese Begutachtung mit einer Vielzahl von intimen Fragen und nicht selten mit „entwürdigenden und diskriminierenden Erfahrungen“ verbunden. Desweiteren sind die Begutachtungsverfahren häufig zeitintensiv und mit hohen Kosten verbunden.
Der Beschluss des BVerfG
Die Ablehnung des Antrags wurde mit der Ermangelung eines Rechtschutzbedürfnisses der beschwerdeführenden Person begründet. Das BVerfG beruft sich dabei im Kern auf seine eigene Entscheidung bezüglich des TSG aus dem Jahre 2011. Darin sei laut dem Gericht schon festgestellt worden, dass die Pflicht, sich zweier Begutachtungen iSd. § 4 Abs. 3 TSG zu unterziehen, „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei“. Nach neuem Beschluss gebe es keinen Anlass, über diese Frage erneut zu entscheiden.
Dies wirft in vielerlei Hinsicht Fragen auf.
- Verletzung von Grundrechten nicht geprüft?
Eines der Kernprobleme ist, dass sich das BVerfG in seiner Entscheidung von 2011 gar nicht mit dem Grundrechtseingriff, der mit der Begutachtungspflicht im Speziellen einhergeht, und einer möglichen Rechtfertigung auseinandergesetzt hat. Es stellte damals lediglich die Verfassungsmäßigkeit fest. Dort, wo man meinen könnte, es sei sich intensiv mit den Argumenten auseinandergesetzt worden, nennt das BVerfG unter anderem aus heutiger Sicht völlig veraltete Kriterien wie der Kleidungsstil und das Auftreten der Person, die Aufschluss auf die innerlich empfundene Geschlechtszugehörigkeit geben sollen. Der Verweis auf diese Entscheidung und die damit begründete Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses laufen also leer.
- Verknüpfung von Recht und Medizin?
Das Verfassungsgericht lehnt eine erneute Befassung mit der Frage der Begutachtungspflicht auch deshalb ab, weil seiner Meinung nach die Entscheidung von 2011 nicht – wie vorgetragen – auf der inzwischen obsoleten Annahme, Transgeschlechtlichkeit sei ein krankhafter Zustand, beruhe.
Das Gericht stellt in dem Verweis auf die frühere Entscheidung fest, dass in der Benennung der Notwendigkeit eines längeren „diagnostisch-therapeutischen Prozesses“, der Gedanke eines Therapiebedarfs „anklinge“. Dieser beruhe jedoch nur auf der Annahme, dass „der Vorgang des Geschlechtswechsels ein belastender Prozess sei“. Im gleichen Absatz wird dann aber aufgeführt, dass es sich allein die um die Entscheidung der betroffenen Person handele, ob sie den „Prozess des Geschlechtswechsels“ mit therapeutischer Begleitung durchlaufen wolle oder nicht. Somit wird zunächst die Verbindung zwischen der rechtlichen Vorschrift mit der Medizin/Psychologie hergestellt, um kurz darauf wieder bestritten zu werden. Dies erscheint allein schon als offener Widerspruch.
Dabei stellt sich die angesprochene Verknüpfung in vielfacher Weise als Grundrechtseingriff dar. Die Begutachtungspflicht bezieht sich auf die in § 1 Abs. 1 TSG genannten Voraussetzungen (dass die Person „sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben,(…) und mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“). § 1 Abs. 1 TSG bezieht sich hiermit auf nicht mehr den aktuellen Erkenntnissen der Sexualforschung entsprechenden Diagnosekriterien und verwendet eine veraltete Terminologie. Eine Begutachtung anhand der veralteten Kriterien führt mithin implizit zu einer Pathologisierung und Stigmatisierung, die weitreichende Folgen für die betroffenen Personen haben. Die Aussage des BVerfG, dass die Begutachtungen grundsätzlich losgelöst von vorhergehenden, aufgezwungenen Beratungs- und Therapiesitzungen stattfinden würden, entspricht in vielen Fällen nicht der Realität. Die engen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 TSG führen dazu, dass unter Umständen transgeschlechtliche Menschen, die diesen nicht entsprechen, gezwungen werden falsche Angaben zu machen. Die „Gatekeeper“-Funktion der Begutachter_innen, die über den Zugang zur Personenstandsänderung entscheiden, macht es weiterhin unmöglich, dass diese den möglicherweise „belastenden Prozess“ therapeutisch begleiten könnten, wie es das BVerfG in der Entscheidung als mögliches Ziel der Begutachtungspflicht anzudeuten versucht.
- Diese Grundrechte sind betroffen
Die Begutachtungspflicht greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Absatz 1 i. V. m. Art. 1 Absatz 1 GG ein, das auch den Schutz der eigenen geschlechtlichen Identität gewährt. Zum einen geschieht dies durch die herabwürdigenden Erfahrungen durch das Prozedere, zum anderen durch die damit einhergehende Stigmatisierung, Psychopathologisierung und Diskriminierung.
Alle Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechtes, beispielsweise durch die hohen Hürden für Personenstandsänderungsverfahren, müssen daher ein legitimes Ziel verfolgen und zur Erreichung desselben geeignet, erforderlich und angemessen sein. Weiterhin ist das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 GG betroffen: Es liegt eine Benachteiligung gegenüber allen anderen Personen, die Ausweisdokumente mit einem Geschlechtseintrag, der dem eigenen Geschlecht entspricht, erhalten können, ohne Begutachtungsverfahren durchlaufen zu müssen. Auf europäischer und internationaler Ebene sind weiterhin Art. 8 und 14 EMRK und Art. 17 ICESCR (und ggf. Art. 7 EU GRCH) betroffen.
Es ist sehr zweifelhaft, ob die Grundrechtseingriffe einer Rechtfertigungsprüfung standhalten würden: Bereits das Feststellen eines legitimen Zweckes bereitet im Lichte der Entscheidung zur dritten Option Probleme. Weiterhin ist die Geeignetheit, die Geschlechtsidentität von außen durch Fremdbegutachtung festzustellen, bereits stark in Frage gestellt worden. Auch ein mögliches Ziel der „Heranführung“ an therapeutische Begleitung ist aus bereits genannten Gründen so nicht zu erreichen. Unabhängig davon ist die Regelung angesichts der weitreichenden Eingriffe in den intimen Bereich des Persönlichkeitsrechtes gegenüber der fragwürdigen Ziele der Begutachtung nicht als verhältnismäßig anzusehen.
- Zuerst Grundrechtsverletzungen über sich ergehen lassen!?
Desweiteren verwundert es, wie einfach es sich das BVerfG damit zu machen scheint, dass es argumentiert, die tatsächliche Anwendung der Begutachtungspflicht, die häufig mit unsachgemäßen, peinlichen oder entwürdigenden Befragungen oder Behandlungen einhergeht, stelle „nicht ohne Weiteres die Regelung selbst in Frage“. Mit der Entscheidung, das Rechtsschutzbedürfnis der beschwerdeführenden Person abzulehnen, da sie sich selbst noch nicht der Begutachtung unterzogen habe und daher noch gar keine Grundrechtsbeeinträchtigung vorliegen könne, konterkariert das BVerfG seine sonstige Vorgehensweise bei wichtigen Entscheidungsfragen. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass beispielsweise von der Erschöpfung des Rechtsweges nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG eine Ausnahme gemacht werden kann, wenn „dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde“, wenn er zum Beispiel zuerst eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung erdulden müsste.
- Verpasste Chance
Insgesamt hinterlässt der Beschluss den fahlen Nachgeschmack einer verpassten Chance. Der Hinweis, in der Verfassungsbeschwerde selbst werde nur § 4 Abs. 3 TSG und gerade nicht die inhaltliche Ausgestaltung des § 1 Abs. 1 GG angegriffen, erscheint nach dem zuvor Gesagten als Versuch des Gerichts, sich unangreifbar zu machen. Dazu muss aber beachtet werden, dass § 4 Abs. 3 TSG gerade als „prozessrechtliches Mittel des objektiven Nachweises der Voraussetzungen“ des § 1 Abs. 1 TSG bzw. als Spezialvorschrift des Paragraphen ausgestaltet ist, wodurch eine enge Verknüpfung beider Vorschriften evident ist. Es wäre dem BVerfG demnach durchaus möglich gewesen, sich mit der angegriffenen Begutachtungspflicht tatsächlich inhaltlich auseinanderzusetzen.
Ein Modell der Selbsterklärung wäre die einzig logische Konsequenz gewesen und die veralteten diagnostischen Kriterien des § 1 Absatz 1 TSG automatisch obsolet geworden.
- Wie passt das zusammen?
Eine Woche zuvor, in der Entscheidung zur dritten Option, hat das Gericht bereits richtigerweise festgestellt, dass das Grundgesetz weder dazu zwinge, den Personenstand binär zu regeln, noch Geschlecht überhaupt als Teil des Personenstandes zu normieren(!).
Wir fragen uns: Wie passt das mit dem Festhalten an einer Begutachtungspflicht zusammen?
Fest steht, solange das rechtliche Geschlecht im Personenstand erfasst wird, muss in der Konsequenz zumindest sichergestellt werden, dass für jede Person Zugang zu ihrem richtigen Geschlechtseintrag gewährt wird – ohne dass sich diese Grundrechtsverletzungen aussetzen muss.
Ohnehin ist der deutsche Gesetzgeber bis Ende 2018 aufgefordert, ein neues Gesetz zu erlassen. Es liegt also nun an ihm, das TSG abzuschaffen und durch eine auf Selbsterklärung basierende Regelung zu ersetzen. Eine solche Regelung existiert bereits in anderen Ländern wie Argentinien, Dänemark, Irland, Malta und Norwegen. Nicht zuletzt spricht sich der Europarat in seiner Resolution 2048 für eine Selbsterklärung aus und auch der Bundesrat hat am 2. Juni 2017 die Regierung aufgefordert, anstelle des TSG ein Gesetz „zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und zum Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechterzuordnung“ zu erlassen.
Die Entwicklungen des kommenden Jahres sind deshalb mit Spannung und Hoffnung zu erwarten.