„An deutschen Unis werden Banalitäten skandalisiert.“ – Das schreibt Welt-Redakteur Philip Kuhn angesichts eines Vorfalls an der Universität Würzburg, bei dem eine Professorin eine Studentin in der Vorlesung aufforderte, ihr Kopftuch abzunehmen. Was er dabei völlig übersieht, ist, dass hinter diesen ,,Banalitäten’’ ernstzunehmende Diskriminierungen und gesellschaftliche Probleme stehen.
„Im Ton vergriffen“ oder die Verfassung nicht verstanden?
In seinem Beitrag schreibt Kuhn, dass sich die Professorin bei der Aufforderung, das Kopftuch abzunehmen, „im Ton vergriffen“ habe. Unausgesprochen bleibt hierbei, dass die Professorin sich nicht nur im Ton vergriffen, sondern offensichtlich grundlegende verfassungsrechtliche Prinzipien falsch verstanden hat. Entgegen der Vorstellung, dass es sich bei dem Begriff der staatlichen Neutralität um ein völliges Fernhalten von Religionen aus dem staatlichen Raum handelt, herrscht in Deutschland ein offenes Neutralitätsverständnis. Demnach nimmt der Staat eine offene und alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung ein. Nicht geboten und gewünscht ist lediglich die Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion. Das Tolerieren des Kopftuches bei Studentinnen oder von anderen religiösen Bekundungen stellt also keinen Eingriff in das Neutralitätsgebot dar. Das sieht zum Teil auch Philip Kuhn ein, der in seinem Artikel – wenn auch oberflächlich – darauf eingeht, dass die Rechtslage klar für das Tragen von Kopfbedeckungen aller Art streitet. Allerdings legt er dabei nicht den Fokus auf das religiöse Kopftuch und verschleiert dadurch, dass es sich in dieser Debatte nicht allein um das Tragen von Kopfbedeckungen irgendwelcher Art handelt, sondern um religiöse Kopfbedeckungen, also um die Ausübung der in Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit. Das Reduzieren des Kopftuches auf ein einfaches Kleidungsstück ist in diesem Zusammenhang eine unzulässige Verkennung seines religiösen Charakters. Das Tragen eines Kopftuchs ist Ausdruck des religiösen Bekenntnisses seiner Trägerin, so hat es das Bundesverfassungsgericht nun schon mehrfach klargestellt. Ein Verbot von Kopfbedeckungen in universitären Räumen, das auch religiöse Kopfbedeckungen erfasst, wäre eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Religion und damit rechtswidrig – ohne Wenn und Aber.
„Ein Pranger für die Professorin?“
Im weiteren Verlauf kritisiert Kuhn die Folgen, die das Handeln der Professorin nach sich zog. „Die persönliche Entschuldigung reicht der Universität [nicht] – sie muss eine Art Prangerwirkung entfalten“, klagt Kuhn. Was er damit meinte? Wurden dienstrechtliche Schritte eingeleitet? Nein, die Professorin musste sich öffentlich entschuldigen. Das öffentliche Bekenntnis zum Grundgesetz als Pranger? Wieder wird verzerrt, dass es sich nicht um eine unglückliche Ausdrucksweise oder ein Vergreifen im Ton ging, das nun übermäßig hart zu bestrafen wird, sondern darum, Diskriminierungen nicht herunterzuspielen, sondern sie ernst zu nehmen. Anstatt das verantwortliche und verfassungsfreundliche Verhalten der Universität zu würdigen, versucht Herr Kuhn Empathie für die Professorin aufzubringen, für die „die vergangenen […] Tage belastend [waren]“. Damit drängt er sie in die Opferrolle und dreht das eigentliche Täter*in-Opfer-Verhältnis um.
Die Argumentation, es sei ihr mit der Aufforderung, die Kopfbedeckung abzunehmen, lediglich um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen gegangen (weil sie zuvor männliche Studenten bat, ihre Basecaps abzunehmen) greift ebenso wenig wie das Argument der staatlichen Neutralität. Einer religiösen Frau das Bekunden ihrer Religion durch das Tragen von religiöser Kleidung zu untersagen, ist eine Verkennung ihrer Grundrechte auf Religionsfreiheit und der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit.
„Ständig fühlt sich jemand verletzt“
Kuhn bleibt nicht bei der Universität Würzburg stehen, sondern nennt andere Beispiele, anhand derer er versucht zu belegen, dass an deutschen Universitäten vermeintlich harmlose Vorfälle skandalisiert werden. So schreibt er, dass ein Professor der Humboldt-Universität zu Berlin über das Gendern gescherzt habe, was im universitären Betrieb einer Todsünde gleichkomme.
Wer so gendergerechtes Sprechen und Schreiben lächerlich macht, übersieht einiges: Sexistische und rassistische Sprüche kommen an deutschen Unis keiner Todsünde gleich, sie gehören vielmehr zum Alltag und darunter leiden viele Studierende. Wer darauf hinweist und einen diskriminierungsfreien Umgang einfordert, ist also erstmal eins: sehr mutig. Dabei geht es weder um Sprechverbote noch um Übertreibungen Einzelner, die keine wichtigeren Probleme haben, als sich mit Sprache zu beschäftigen. Das Problem dahinter heißt strukturelle Diskriminierung, die auch durch Sprachgebrauch manifestiert wird. Verschiedene Perzeptionsstudien zeigen, dass bei dem Gebrauch des Maskulinums vorrangig männlichen Personen assoziiert werden und Frauen nicht mitgedacht werden. Da sprachliche Formen unsere Wahrnehmung und schließlich unser soziales Handeln beeinflussen, wird so die strukturelle Diskriminierung der Frau fortgeführt und aufrechterhalten. Ähnlich verhält es sich mit halbnackten Frauenbildern oder sexistischen Gedichten.
Es bleibt festzuhalten, dass es sich bei den von Kuhn benannten „skandalisierten Banalitäten“ tatsächlich um Diskriminierungen handelt, deren Bedeutsamkeit durch verzerrte Berichterstattungen nicht in den Hintergrund rücken darf. Durch das Banalisieren solcher Skandale wird andernfalls der Weg für alltägliche Diskriminierungen weiter offen gehalten.