Endlich: das Bundesverfassungsgericht äußert sich erstmals zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte – ach nein, doch nicht.
Am 11.Oktober 2017 erschien der langerwartete Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu dem Eilantrag eines 17-jährigen Syrers, der seine in Damaskus lebenden Eltern und Geschwister nachholen wollte. Im Kern ging es bei der Entscheidung um die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 104 Abs. 13 AufenthG. Diese im Zuge des Asylpakets II geschaffene Regelung setzt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aus, wenn die Anerkennung als Schutzberechtigter nach dem 17. März 2016 erfolgt ist. Der Eilantrag wurde gestellt, weil der 17-jährige subsidiär Schutzberechtigte am 13. Oktober 2017 volljährig wurde und der Familiennachzug der personensorgeberechtigten Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit nicht mehr geltend gemacht werden kann.
Die in wenigen Tagen eintretende Volljährigkeit nennt das Bundesverfassungsgericht letztlich als den entscheidenden Versagungsgrund und gemeinsam mit dem Ziel, Schaffung von vollendeten Tatsachen zu vermeiden: Der Familiennachzug zu Minderjährigen vermittele nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht. Dieses ende mit dem Zeitpunkt der Volljährigkeit. Das Gericht räumt zwar ein, dass die Eltern nach ihrer Einreise aufgrund der Lage in Syrien voraussichtlich nicht dorthin zurückkehren müssten. Aber es sei nicht Schutzzweck der Norm [§ 36 AufenthG], Menschen in Deutschland die Stellung eines Asylantrags zu ermöglichen und zieht zur Begründung auch die (höchst bedauerliche) Entscheidung des EuGH zu humanitären Visen von diesem Jahr heran (hier und hier eine ausführliche Besprechung der Entscheidung im Verfassungsblog).
Zulässig, aber in der Sache unbegründet lautet deshalb das Urteil der Richter. Wie ist diese Entscheidung rechtlich zu bewerten?
Ein Streit auf vielen Bühnen
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte: Wie kam es dazu, dass diese kleine Regelung, versteckt in der ellenlangen Norm des § 104 AufenthG, zu einem der derartigen Zankapfel des deutschen Migrationsrechts werden konnte?
Subsidiär Schutzberechtigten, also Menschen mit einem Schutzstatus nach § 4 AsylG, fehlt zwar das individuelle Verfolgungsschicksal von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 16a GG, ihnen droht aber bei Rückkehr in ihr Herkunftsland Folter und Gewalt. Diese Personengruppe ist rechtlich in vielerlei Hinsicht den Schutzberechtigten nach § 3 AsylG angenähert wie etwa beim Zugang zu Sozialleistungen und Arbeitsmarkt. Ein wichtiger Unterschied besteht in der Länge der erteilten Aufenthaltstitel, der zweite beim hier strittigen Familiennachzug.
Mit dem sogenannten Asylpaket II aus dem Jahr 2015 wurde der Familiennachzug für diese Personengruppe ausgesetzt in dem damals neugeschaffenen § 104 Abs. 13 AufenthG mit dem expliziten Ziel der Zuwanderungsbegrenzung (so die Gesetzesbegründung). Zeitlich darauf folgend wurde syrischen Asylantragstellenden vermehrt der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen statt des „vollen“ Flüchtlingsstatus, so dass eine sich mehrende Personengruppe von der Aussetzung betroffen war (vgl. Angaben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für 2016).
Der Streit um den Familiennachzug wird seither hitzig auf mehreren Bühnen geführt: Vor Gericht, innerhalb der Zivilgesellschaft, im Parlament und aktuell auch bei den Koalitionsverhandlungen zwischen den Grünen, der CDU/CSU und der FDP und dabei teilweise zur Grundsatzfrage über den Umgang mit Flüchtlingen und Migration in unserer Gesellschaft stilisiert.
Die Bedeutung von Familiennachzug im deutschen Migrationsrecht
Warum ist Familiennachzug so wichtig? Es handelt sich hierbei um einen der wenigen existierenden sicheren, legalen Zugangswege nach Deutschland. Der Weg nach Europa ist für den Großteil der Menschen, die Schutz vor Verfolgung oder Gewalt suchen, schlicht gefährlich: Die Mehrzahl der etwa 100 000 Menschen, die im vergangenen Jahr nach Europa kamen, nahmen eine der drei Routen: Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute zwischen Italien und Libyen (ca. 5000 Tote im vergangenen Jahr laut UNHCR), die Balkanroute über Bulgarien, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Ungarn oder die nördliche Mittelmeerroute via Spanien. All diese Wege sind nachgewiesenermaßen äußerst gefährlich, auch und besonders, weil die Grenzen zum großen Teil geschlossen sind, weshalb die Betroffenen so gut wie keine legale Reisemöglichkeiten haben oder sie über das Meer führen.
Zurück zu der Entscheidung aus Karlsruhe: Der unmittelbar bevorstehende 18. Geburtstag führt dazu, dass das Gewicht des Nachteils, „keine familiäre Lebensgemeinschaft eingehen zu können“ geringer bewertet wird als das Interesse des Staates an dem Vollzug der Regelung. Damit nähern wir uns nun aber zögerlich dem eigentlichen Grund. “Würde zudem die einstweilige Anordnung, was hier allein in Betracht kommt, mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG begründet, so müsste dies für alle anderen Fälle des Familiennachzugs zu minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus ebenso gelten, was im Ergebnis der Aussetzung des Vollzugs der gesetzlichen Regelung gleichkäme.“ Angesichts der Tragweite der eigenen Handlung erstarrt Karlsruhe vor der eigenen Kühnheit und – tut lieber nichts. Das Gericht betont, dass die ohnehin hohe Hürde des § 32 Abs. 1 BVerfGG sich noch erhöhe, wenn der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden solle. „Größte Zurückhaltung“ sei geboten bei diesem „erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers“, und man sieht geradezu die besorgten Mienen in Karlsruhe.
Eine vertane Chance
Aus völker- und verfassungsrechtlicher Sicht ist sie bedauerlich. Denn die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG ist verfassungs- und völkerrechtlich kritisch zu betrachten. Art. 6 GG schützt das Recht auf Ehe und Familie. Damit einher geht auch die gelebte Familieneinheit. Das bedeutet zwar nicht, dass sich daraus reflexhaft ein Wahlrecht auf die Familieneinheit in einem bestimmten Land ergibt. Wenn jedoch – wie hier, und wie bei Flüchtlingen immer wieder der Fall – die Familieneinheit nirgendwo sonst hergestellt werden kann, muss dies Berücksichtigung finden im Rahmen der hoheitlichen Entscheidung und drängt einwanderungspolitische Belange dann regelmäßig zurück. Auch Art. 8 EMRK betont die enorme Wichtigkeit des familiären Zusammenlebens und der familiären Einheit und ein Anspruch auf Familienzusammenführung kann dann entstehen, wenn – wie hier – diese Familieneinheit nirgendwo anders gelebt werden kann.
Auch die Kinderrechtskonvention (KRK), in deren personellen Anwendungsbereich der betroffene Antragsteller ja zum Zeitpunkt der Entscheidung ja noch fiel, gebietet in Art. 3, dass bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl im Rahmen der Abwägung ein Gesichtspunkt sein soll und „vorrangig zu berücksichtigen ist“. Art. 10 KRK enthält die Vorgabe, dass die Vertragsstaaten den Familiennachzug „wohlwollend, human und beschleunigt“ bearbeiten sollen. Das Kindeswohl muss also im Rahmen des Abwägungsvorgangs ein besonderes Gewicht erhalten.
Schließlich ist die Regelung auch europarechtlich bedenklich, wie Helene Heuser bereits ausführlich dargelegt hat: Das Recht zum Familiennachzug ist in verschiedenen Sekundärrechtsakten enthalten, darunter auch in der sogenannten Familienzusammenführungsrichtlinie. Diese erwähnt zwar subsidiär Schutzberechtigte nicht explizit, das hat aber einen historischen Grund: Sie stammt aus dem Jahr 2003, als subsidiär Schutzberechtigte im Europarecht als Schutzkategorie noch nicht existierten. Spätere Rechtsakte wie die sogenannte EU-Qualifikationsrichtlinie weisen jedoch darauf hin, dass die Staaten eine Gleichstellung von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten anstreben sollen (vgl. Erwägungsgründe 8, 9 und 39, Art. 1 Qualfikations-RL)
Das strikte Korsett von § 104 Abs. 13 AufenthG erlaubt keinen Raum für diese verfassungs-, völker- und europarechtlichen Bedenken. Auch die Regelung des § 22 AufenthG, deren Anwendung ausdrücklich der Prärogative der Verwaltung und damit nicht erzwungen werden kann, ist kein ausreichendes Mittel, zu gewährleisten, dass diesen verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken ausreichend Rechnung getragen wird.
Im Ergebnis bleibt es eine vertane Chance. Und gleichzeitig eine bittere Ironie, dass das erklärte Ziel des Gerichts, keine vollendeten Tatsachen im Rahmen einer Eilentscheidung zu schaffen, genau dies getan hat – aber auf Seiten des Antragstellers: Dieser ist nun volljährig und kann sein Recht auf Familienzusammenführung im Hauptsacheverfahren nicht mehr ausüben. Dies gilt leider nicht nur für ihn, sondern voraussichtlich für eine ganze Gruppe an Menschen mit subsidiärem Schutzstatus, die vor dem 17. März 2018 volljährig werden. Je nachdem, wie die Koalitionsverhandlungen laufen werden, wird die Gruppe der Betroffenen noch wachsen. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass ein günstiger gelagerter Fall das Bundesverfassungsgericht erreichen wird und es dann Stellung beziehen muss.
Der Beitrag ist zuerst auf dem Verfassungsblog am 18. Oktober 2017 erschienen.