„Karlsruher Allerlei“ statt Vatertag. Von den Grenzen des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Doch auch wer zu früh (auf die Welt und zu Gericht) kommt, kann ziemliches Pech haben. Zu diesem Schluss dürfte eine Frau gelangt sein, die seit vielen Jahren herauszufinden versucht, wer ihr leiblicher Vater ist, und mit diesem Anliegen bis vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zog.

Das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung hat das BVerfG Ende der 1980er Jahre als Ausformung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt und damit ein grundrechtliches Schwergewicht geschaffen. Reichweite und Konturen dieses Rechts wurden seither intensiv und kontrovers diskutiert – vor allem im Zusammenhang mit neuen reproduktiven Technologien.

In seiner jüngsten Entscheidung kommt der Erste Senat nun einstimmig zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verpflichtet sei, eine Grundlage für die rechtsfolgenlose Klärung der Abstammung von einem mutmaßlichen leiblichen Vater zu schaffen, der nicht der rechtliche Vater ist und dies auch nicht werden soll. Zu begrüßen ist der Ansatz des BVerfG, das Kenntnisrecht in seiner Schwergewichtigkeit zu relativieren. Die Begründung des Urteils überzeugt jedoch nicht in jeder Hinsicht.

Zu früh geboren

Der Sachverhalt des zu entscheidenden Falles war einigermaßen außergewöhnlich. Mit Samenspendern oder anderen neuartigen Konstellationen aus dem Kontext reproduktiver Technologien hat er rein gar nichts zu tun. Vielmehr ging es um ein ganz altbekanntes Phänomen: Die Beschwerdeführerin (Bf.) wurde 1950 als nichteheliches Kind geboren und versucht seit vielen Jahren, den Antragsgegner – einen mittlerweile fast 90-jährigen Mann – dazu zu bewegen, in eine DNA-Untersuchung einzuwilligen. Es gibt verschiedene Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass dieser Mann der leibliche Vater sein könnte. Der Mann verweigert jedoch beharrlich seine Mitwirkung an der klärenden DNA-Analyse. Bereits 1955 war in einem rechtskräftigen Urteil festgestellt worden, dass der Antragsgegner nicht der Vater sei. Die technischen Feststellungsmöglichkeiten waren damals noch begrenzt und im Ergebnis widersprüchlich: Eine Untersuchung der Bluteigenschaften schloss die Vaterschaft nicht aus, ein anthropologisch-erbbiologisches Gutachten kam jedoch zum entgegengesetzten Ergebnis. Der Beweiswert letzterer Untersuchungsmethode gilt heute als gering. Die Rechtskraft dieses Urteils verhindert unterdessen, dass die Bf. eine gerichtliche Vaterschaftsfeststellung nach § 1600d BGB betreiben könnte. Sie versuchte deshalb, mittels einer erweiternden Auslegung von § 1598a BGB eine sogenannte rechtsfolgenlose Klärung der genetischen Abstammung zu erlangen. Die Norm sei verfassungskonform dahingehend zu interpretieren, dass auch der mutmaßliche leibliche Vater in Anspruch genommen werden dürfe, ohne dass zugleich eine rechtliche Vaterschaft begründet werde. Mit diesem Anliegen scheiterte die Bf. sowohl vor dem AG Borken als auch vor dem OLG Hamm – und nun auch vor dem BVerfG.

Das Kenntnisrecht trumpft nicht mehr

Wissen oder Nichtwissen um die eigene Abstammung berührt zentrale Fragen des eigenen Ichs und kann von überragender Wichtigkeit für das persönliche Leben sein. Wissenschaftlich ist in diesem Zusammenhang vieles ungeklärt und uneindeutig. Dennoch hat das BVerfG der Kenntnis der eigenen Abstammung bisher große Bedeutung beigemessen: Regelmäßig setzte sich das Kenntnisrecht in der Abwägung mit entgegenstehenden Rechten durch. (Diese Tendenz zeigt sich auch in der Rechtsprechung des BGH hier und hier.) Wer daher annahm, „Kenntnisrecht ist Trumpf“, wird im aktuellen Urteil eines Besseren belehrt. Als Gegengewicht zum Kenntnisrecht wartet das BVerfG mit einer Art „Karlsruher Allerlei“ auf, einer Melange aus diversen Interessen des betroffenen Mannes und seiner Familie. Zutaten sind etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Achtung der Privat- und Intimsphäre sowie der Schutz des Familienlebens.

Bezogen auf den konkreten Fall fehlen dem Gericht jedoch offenbar die Ballaststoffe. Schwerwiegend beeinträchtigte Grundrechte gab es weder auf Seiten der rechtlichen Eltern (die Mutter der Bf. ist bereits verstorben) noch auf der Seite des Antragsgegners, der selbst keine eigene Familie hat (wofür Rn. 13 spricht). Tatsächlich betroffen sein kann (nur) das Recht der Bf. auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Die Abwägung mit dem „Karlsruher Allerlei“ hätte daher eigentlich zu Gunsten des Kenntnisrechts ausfallen müssen. Hier behilft sich das BVerfG nun mit folgendem Geschmacksverstärker:

„Es mag ein Mann, […] in der berechtigten Annahme gelebt haben, nicht Vater des Kindes zu sein, insbesondere weil eine frühere Abstammungsbegutachtung, wie hier, zur Verneinung seiner Vaterschaft geführt hat. Auch die Annahme eines Mannes, nicht der leibliche Vater eines bestimmten Kindes zu sein, kann Einfluss auf sein Selbstverständnis haben.“ (Rn. 62)

2007 stand das BVerfG bei heimlichen Vaterschaftstests einem Recht auf Nichtkenntnis von eigenen Abkömmlingen noch skeptisch gegenüber. In der aktuellen Entscheidung scheint es jedoch genau ein solches Recht des Mannes zu konstruieren, nämlich nicht wissen zu müssen, welche Kinder er gezeugt hat. Anders lässt sich jedenfalls kaum erklären, warum das individuelle Interesse des Antragsgegners als negatives Interesse überhaupt in der Abwägung Berücksichtigung findet.

Der Antragsgegner hatte vorgebracht, er wolle im hohen Alter nicht von einem leiblichen Kind erfahren und mit der Gewissheit leben müssen, sich ein Leben lang nicht gekümmert zu haben. Er beruft sich auf die Rechtskraft des Urteils von 1955, in dem er nicht als leiblicher Vater festgestellt wurde. Selbst wenn diesem Anliegen rechtliche Relevanz zugesprochen würde, bleibt die Reichweite der Rechtskraft fraglich. Die Vaterschaftsfeststellungsmöglichkeiten der 1950er Jahre sind nicht vergleichbar mit heutigen Standards. Damals ging es um die Feststellung, ob der Antragsgegner der rechtliche Vater sei. Im aktuellen Fall geht es nurmehr darum, die leibliche Vaterschaft klären zu lassen. Ob die Rechtskraft des Urteils von 1955 sich wirklich auch auf die Frage der leiblichen Vaterschaft ohne Rechtsfolgen erstreckt, hätte das BVerfG substantiiert erörtern müssen. Warum das Recht auf Kenntnis gerade in dieser Konstellation nicht überwiegen soll, bleibt völlig unklar.

„Hidden agenda“: Samenspender?

Bislang fehlt eine Rechtsgrundlage, die es ermöglicht, auch außerhalb bestehender rechtlicher Elternschaft die genetische Abstammung rechtsfolgenlos zu klären. Nach Ansicht der Karlsruher Richter*innen muss die Gesetzgebung daran auch nichts ändern. Das BVerfG befürchtet anscheinend Unmengen von Abstammungsuntersuchungen „ins Blaue hinein“, mit denen sich Männer und ihre Familien konfrontiert sehen könnten. Es bleibt offen – auch weil Belege fehlen –, woher diese Vermutung kommt. Bezogen auf die konkrete Bf. erscheint die Befürchtung jedenfalls deplatziert, da sie durchaus plausible Anhaltspunkte dafür benannt hat, warum der Antragsgegner ihr leiblicher Vater sein könnte. Es handelt sich im Anlassfall also keineswegs um ein Verfahren „ins Blaue hinein“.

Doch woher kommt die Furcht, dass zukünftig Massen von Menschen langjährige Prozesse gegen x-beliebige Männer anstrengen könnten, weil sie in diesen ihre Erzeuger vermuten? Einzig für die Situation von Spenderkindern scheint diese Befürchtung nicht ganz aus der Luft gegriffen. Denn hier könnten im Einzelfall tatsächlich eine ganze Reihe von unbeteiligten Männern betroffen sein, etwa dann, wenn eine gerichtlich zur Auskunft verpflichtete Samenbank nicht den konkreten Spender, sondern nur einen Kreis von Spendern benennen kann, die alle als leiblicher Vater in Betracht kommen. Vielleicht wollte sich der Erste Senat vorbeugend zur Diskussion um Spenderkinder äußern? Dies könnte zumindest die im Übrigen weitenteils nicht nachvollziehbare Argumentation erklären, bei der eine Vielzahl von Rechten zugunsten der mutmaßlichen Väter ins Feld geführt wird. Die „hidden agenda“ der Spenderkinder war schon im ersten Urteil zum Kenntnisrecht von 1989 auszumachen: Der Fragenkatalog, auf dessen Grundlage das BVerfG seinerzeit Stellungnahmen einholte, enthielt bereits eine Frage nach der Bedeutung des Auskunftsbegehrens der damaligen Bf. für die Problematik der heterologen Insemination. Auch im aktuellen Fall ist es nicht fernliegend anzunehmen, der Erste Senat habe erneut die Situation von Samenspendern mitbedacht, die längst eigene Familien gegründet haben. Denn nur aus dieser Perspektive wird die ausführliche Berücksichtigung der entgegenstehenden Interessen des mutmaßlichen leiblichen Vaters verständlich.

Hoffnungsschimmer Exhumierung?

Im Fall der Bf. ging es nicht um solche neuen Familienkonstellationen. Für die Bf. wird es keine Möglichkeit mehr geben, zu klären wer ihr leiblicher Vater ist. Sofern ihr Vertrauen in das Recht nicht ohnehin gänzlich beeinträchtigt ist, könnte sie vielleicht als potentielle Erbin nach dem Tod des Antragsgegners noch einmal versuchen, mittels Exhumierung Gewissheit zu erlangen. Möglicherweise wird ihr aber auch dann die Rechtskraft des unglückseligen Urteils von 1955 entgegengehalten.

Nicht zuletzt neue Familienmodelle haben zu einer Loslösung des Individuums von genetisch-biologischen Determinanten geführt. Vor diesem Hintergrund scheint das Kenntnisrecht, wie es das BVerfG 1989 konstruiert hat, in seiner Schwergewichtigkeit relativierungsbedürftig. Und insofern ist es zu begrüßen, dass dieses Recht eingegrenzt und stärker konturiert wird. Das Rezept „Karlsruher Allerlei“ mag hierzu Inspiration für andere Gerichte bieten – bezogen auf den vorliegenden Einzelfall hat es jedoch einen ziemlich bitteren Beigeschmack.

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