Meine Lieferkette, aber nicht meine Verantwortung?

Im September 2019 starteten rund 80 zivilgesellschaftliche Organisationen die Initiative Lieferkettengesetz. Sie fordern die Bundesregierung auf, deutsche Unternehmen gesetzlich zu menschenrechtlicher Sorgfalt bei ihren Geschäften im Ausland auch entlang der Wertschöpfungskette zu verpflichten. Die Bundesminister Gerd Müller und Hubertus Heil haben nun angekündigt, ein Arbeitspapier für ein Lieferkettengesetz vorzulegen. Knackpunkt wird sein, ob es Sanktionen in das Gesetz schaffen, die für Unternehmen tatsächlich schmerzhaft wären.

Globale Lieferketten sind Ort zahlreicher Menschenrechtsverletzungen. Bekannte Risikoindustrien sind die Textilindustrie, der Bergbau sowie große Infrastrukturprojekte. Gewinne werden hier zulasten von Menschenrechten, Arbeitnehmer*innenrechten und nicht zuletzt der Umwelt erwirtschaftet. Deutsche Unternehmen wie Kik, TÜV Süd oder Bayer, die bekanntermaßen an gravierenden Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, können derzeit weder zivilrechtlich noch auf anderem Wege juristisch zur Verantwortung gezogen werden.

Die Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag vereinbart, gesetzlich tätig zu werden, sollten bis 2020 nicht mindestens die Hälfte der deutschen Unternehmen freiwillig Menschenrechte beachten. Ein Monitoring zeigte im Dezember 2019, dass nur 17 bis 19 Prozent der Unternehmen als „Erfüller“ menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten gelten. Auch eine am 20. Februar 2020 veröffentlichte Studie der EU Kommission kommt zu dem Schluss, dass Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, sondern es staatlicher Regulierung bedarf. Es besteht also Handlungsbedarf. Wie kann eine solche gesetzliche Regelung aussehen?

Sorgfaltspflichten multinationaler Unternehmen

In ihrem Rechtsgutachten gibt Initiative Lieferkettengesetz Empfehlungen zum Anwendungsbereich eines Gesetzes, zu Schutzgütern sowie zu möglichen Sanktionen. Herzstück eines Lieferkettengesetzes sind jedoch die Sorgfaltspflichten, die sich an den 2010 veröffentlichten UN Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP) orientieren.

Unternehmen sollen in regelmäßigen Abständen, mindestens jedoch jährlich, die potenziellen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf die Menschenrechte analysieren. Auf Grundlage dieser Risikoanalyse müssen sie Maßnahmen ergreifen, um bestehende Beeinträchtigungen zu beseitigen und Risiken zu verringern. Diese Maßnahmen können vielfältig und sowohl punktueller als auch struktureller Natur sein – von internen Richtlinien über Schulungen bis hin zu Hinweisgeberkanälen. Unternehmen müssen ihre Risikoanalyse und die von ihnen getroffenen Maßnahmen veröffentlichen. Schließlich sollen sie verpflichtet werden, effektive Beschwerdesysteme einzuführen, damit Betroffene von Menschenrechtsverletzungen direkt auf diese aufmerksam machen können.

Die meisten deutschen Unternehmen lehnen den Gesetzesvorschlag ab und weisen darauf hin, dass der Schutz von Menschenrechten Aufgabe des Staates sei. Dies liegt insbesondere im Bereich internationaler Menschenrechte nahe. Die von der Initiative genannten Schutzgüter finden ihre Grundlage in internationalen Erklärungen und völkerrechtlichen Verträgen. Dazu gehören die internationalen Menschenrechtspakte, spezielle UN-Konventionen und verschiedene Übereinkommen der International Labour Organisation, etwa zu Kinderarbeit, Entgeltgleichheit und Vereinigungsfreiheit. Diese binden direkt nur Staaten. Strittig ist, inwieweit Staaten verpflichtet sind, extraterritorial Menschenrechte zu achten – also dort, wo es theoretisch einen anderen Staat gibt, dessen hoheitliche Aufgabe der Schutz der Menschenrechte ist.

Extraterritoriale Staatenpflichten

In Bezug auf die im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte („Sozialpakt“) verankerten Menschenrechte wie Recht auf Wasser, Gesundheit und Wohnen hat der zuständige UN-Fachausschuss herausgearbeitet, dass extraterritoriale Staatenpflichten zur Achtung und zum Schutz der Menschenrechte bestehen. Dies bestätigte auch der Internationale Gerichtshof in seiner Rechtsprechung. Um den Umfang extraterritorialer Staatenpflichten genauer zu bestimmen, wurden unter anderem die 2011 verabschiedeten Maastricht Prinzipien entwickelt. Daran beteiligt waren die UN, zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen. Die Maastrichter Prinzipien gelten nicht als soft law, sondern als Kodifikation geltenden internationalen Rechts. Im Bereich der staatlichen Schutzpflichten sieht Prinzip 24 eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Regulierung nicht-staatlicher Akteure vor. Nach Prinzip 25 greift diese Schutzpflicht insbesondere auch bei Konstellationen, in denen das Mutterunternehmen im betreffenden Staat ansässig ist oder eine „ausreichende Verbindung“ zwischen dem zu regulierenden Verhalten und dem betreffenden Staat besteht. Es fällt also unter die staatlichen Schutzpflichten, nicht-staatliche Akteure auch zu regulieren, wenn diese extraterritorial Verbindungen zu Menschenrechtsverletzungen haben.

Die Rolle der Rechtsprechung in der Regulierung von Lieferketten

Maßgeblich wird darüber hinaus insbesondere sein, wie die Zurechnung zu und Kausalität von unternehmerischem Handeln für Rechtsgutverletzungen gesetzlich ausgestaltet wird. Nicht jeder Vorfall, der ein Menschenrecht verletzt, kann als Menschenrechtsverletzung dem Unternehmen am Ende der Lieferkette zugerechnet werden. Vielmehr muss für eine zivilrechtliche Haftung im Einzelfall festgestellt werden, dass die Ursachen struktureller Natur waren.

Hierfür ist der Begriff der Angemessenheit zentral. Welches Maß der Sorgfalt jeweils angemessen ist, lässt sich im Verhältnis zu den mit der Tätigkeit verbundenen Risiken ermitteln. So muss bei großen Infrastrukturprojekten wie dem Bau eines Staudamms, die oft mit Umsiedlungen und Eingriffen in die Umwelt einhergehen, besondere Sorgfalt geübt werden. Ohne den Angemessenheitsbegriff zur Bestimmung der Sorgfaltspflichten eines Unternehmens, müsste ein Lieferkettengesetz detailliert vorschreiben, welche Gefahrenlage welche Maßnahme erforderlich macht. Das Gesetz könnte so kaum die erwünschte Wirkung entfalten. Die Auslegung im Einzelfall und damit die konkrete Regulierungswirkung eines Lieferkettengesetzes hinge dann von der Rechtsprechung ab. Allerdings besteht für Unternehmen deswegen kein Anlass, zu glauben, sie würden „bereits mit beiden Beinen im Gefängnis“ stehen. Dass ein derart neuartiges Gesetz in näherer Zukunft zum Gegenstand progressiver Rechtsprechung wird, darf bezweifelt werden. Es ist nicht zu erwarten, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der Angemessenheit genutzt wird, um deutschen Unternehmen ausufernde Sorgfaltspflichten aufzubürden.

Auch die deliktsrechtlichen Kriterien, die das Gutachten der Initiative Lieferkettengesetz vorschlägt, sind im deutschen Zivilrecht keineswegs systemfremd. Dazu gehören die generelle Gefahrgeneigtheit einer Tätigkeit, die Erkennbarkeit einer Gefahr, Schutzmöglichkeiten und die Schwere der Schädigung.

Nur wirksam mit Sanktionen

Um nicht zahnlos zu sein, braucht ein Gesetz wirksame Sanktionen. Die Initiative Lieferkettengesetz rät hier zurecht zu einer Kombination aus öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Durchsetzungsmechanismen. Öffentlich-rechtliche Sanktionen wären zum Beispiel Bußgelder, die verhängt würden, wenn ein Unternehmen seinen Berichtspflichten nicht nachkommt. Diese haben eher zur Folge, dass Unternehmen präventiv tätig werden und nicht erst, wenn ein Schaden eingetreten ist. Neben Bußgeldern können solche Sanktionen auch an das Vergaberecht und die Außenwirtschaftsförderung des Bundes geknüpft werden. Eine zivilrechtliche Haftung im Schadensfall ist darüber hinaus elementar. Ansonsten könnte es für große Unternehmen günstiger sein, sich im Einzelfall „freizukaufen“ statt von vornherein Sorgfalt walten zu lassen. Dann würden die Risikoanalysen zu einer bloßen Ankreuzübung und gelegentliche Schäden in Kauf genommen werden.

Globalisierungsgewinner inszenieren sich als handlungsunfähig

Peter Clever vom Bundesverband Deutscher Arbeitgeber sagte zum Thema Haftung: „Haftung ist der zentrale Knackpunkt. Wenn der weg ist, können wir noch mal in ein sehr konstruktives Gespräch eintreten: Was können Unternehmen machen, und was ist Aufgabe staatlicher Stellen.“ Clever verweist damit auf ein weiteres Argument von Unternehmerseite: selbst wenn Unternehmen wollten, sie könnten ihre Lieferketten nicht bis aufs letzte durchschauen. Unternehmen stellen die an sie gestellten Anforderungen eines Lieferkettengesetzes bewusst als Ding der Unmöglichkeit dar. So unübersichtlich globale Lieferketten heute sind, so wenig überzeugt diese Darstellung. Wenn westliche, global agierende Unternehmen – die Globalisierungsgewinner par excellence – meinen, international nicht handlungsfähig zu sein, kann das getrost als Kommunikationsstrategie verstanden werden. Lieferketten, auf deren Grundlage große europäische Unternehmen enorme Gewinne erwirtschaften, können nicht zu fragil oder obskur sein, um unter einer Risikoanalyse zu kollabieren.

Eine Abwälzung der Verantwortung auf die Produktionsländer wird den globalen Realitäten jedenfalls nicht gerecht. Die Staaten des Globalen Südens, in denen westliche Unternehmen und ihrer Zulieferer produzieren, haben oft kein Interesse, durch die Einführung höherer Schutzstandards Arbeitsplätze zu riskieren. Und gerade kleinere Staaten haben schlicht nicht die wirtschaftlichen Mittel, global agierende multinationale Unternehmen zu regulieren. Das zeigt der Fall des US-amerikanischen Unternehmens Chevron in Ecuador. Betroffenen gelang es, gegen ein ausländisches Unternehmen für gravierende Umweltschäden vor einem Gericht im Produktionsland Schadenersatz zu erstreiten. Chevron zahlte die Summe nie und verklagte Ecuador stattdessen vor einem Schiedsgericht für Investitionsschutzstreitigkeiten. Der Fall zeigt exemplarisch: ohne den politischen Willen des Globalen Nordens werden Unternehmen nie zur Verantwortung gezogen.

Die Einführung solcher Sorgfaltspflichten würden auch sicher nicht das bestehende Wirtschaftssystem auf den Kopf stellen. Unternehmen würden immer noch weitestgehend in Eigenregie entscheiden, wo sie Risiken sehen und welche Maßnahmen sie ergreifen – und auch, wie viele Ressourcen sie für diese aufwenden. Andererseits gab es in der Vergangenheit genug Fälle, in denen schon mit geringem Mehraufwand gravierende Fehler vermieden worden wären. So starben 2012 bei einem Brand in der pakistanischen Textilfabrik Ali Enterprises 258 Arbeiter*innen. Eine spätere Computersimulation zeigte, dass grundlegende Brandschutzmaßnahmen ausgereicht hätten, um viele Leben zu retten. Hauptkunde von Ali Enterprises war das Textilunternehmen KiK. Eine Verpflichtung, Missstände zu analysieren und darauf zu reagieren, hätte hier unter Umständen dazu geführt, dass die Notausgänge der Fabrik offen und die Fenster nicht vergittert gewesen wären – nichts davon wäre aufwendig umzusetzen gewesen.

Auf dem Weg zu einer EU-weiten Regulierung

Selbst ein vorsichtiges Lieferkettengesetz wäre ein wichtiger, wenn nicht notwendiger Schritt auf dem Weg zur EU-weiten Harmonisierung. Diese muss das eigentliche Ziel zivilgesellschaftlicher Bemühungen sein, um tatsächlich Veränderungen zu erreichen. Je mehr europäische Länder ähnliche Gesetze einführen, desto einfacher wird es, die Wirtschaft mit an den Tisch zu holen. Denn die wenigen Unternehmen, die wie Tchibo, Daimler und KiK für ein Lieferkettengesetz sind, argumentieren vor allem mit der Notwendigkeit eines level playing fields für alle Unternehmen. So müssten nicht mehr die wenigen „Erfüller“ die Kosten für ihre freiwilligen Anstrengungen tragen und dafür Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen.  Die Bundesrepublik bekleidet hier keineswegs eine Vorreiterrolle: Frankreich hat 2017 mit der Loi de vigilance ein ähnliches Gesetz erlassen, in England und den Niederlanden gibt es zumindest gesetzliche Vorgaben gegen Kinderarbeit in den Lieferketten.

Neuer Impuls für globalen Umwelt- und Klimaschutz?

Schließlich wäre ein Lieferkettengesetz, welches das Schutzgut Umwelt berücksichtigt, ein wichtiger Impuls im Umgang mit der Klimakrise. Denn es findet einen möglichen Ansatz für eine Frage, vor der die Umwelt- und Klimabewegung genauso steht: wie gehen wir damit um, dass unsere Erde nicht an Staatsgrenzen endet? Extraterritoriale Staatenpflichten sind die Antwort der Menschenrechte darauf.

Man darf also gespannt sein, wie das Arbeitspapier des Entwicklungs- und Arbeitsressorts aussehen wird und inwieweit es zivilgesellschaftliche Forderungen aufgreift, um der Verantwortung Deutschlands als global agierende Wirtschaftsmacht gerecht zu werden.

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