Anfang November verkündete das Berliner Landgericht das Urteil im Fall eines rassistischen Messerangriffs auf eine Rom*nja-Familie. Das Gericht erkannte das rassistische Motiv der Täterin an. Die Argumentation während des Prozesses und in der Urteilsverkündung zeigt aber: die strukturelle Dimension von Rassismus gegen Rom*nja ist noch lange nicht im Bewusstsein der Justiz angekommen. Ein klares Zeichen gegen Rassismus gegen Rom*nja bleibt weiter aus.
Der Prozess
4. November 2019: Es ist der letzte von sechs Prozesstagen, an denen der Angriff auf M., ihren Ehemann sowie ihren Schwager verhandelt wird. Die drei waren im Frühjahr 2019 in der U-Bahn unterwegs, als die weiße deutsche Täterin anfing, sie rassistisch zu beschimpfen und schließlich ein Messer zückte. Mehrere Messerstiche trafen M. und ihren Schwager an Hals, Bein und Brust. Ein Gutachter bestätigte vor Gericht, dass es nur dem Zufall zu verdanken war, dass die Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren.
Im Zentrum des Prozesses standen einerseits die Frage nach der Schuldfähigkeit der Täterin, anderseits nach einem rassistischen Tatmotiv. Dieses ist für das Strafmaß mitentscheidend: wenn die rassistische Motivation als niedriger Beweggrund i.S.v. § 211 Abs. 2 StGB anerkannt wird, handelt es sich um einen versuchten Mord. Ohne rassistische Beweggründe würde es sich „nur“ um versuchten Totschlag handeln und das Strafmaß geringer ausfallen. Dementsprechend stritt die Verteidigung der Angeklagten den Rassismusvorwurf vehement ab.
Das Gericht benennt Antiziganismus …
Die Angeklagte wird am 4. November schließlich wegen versuchtem Mord an dem Schwager von M. und vollendeter gefährlicher Körperverletzung an M. in Tatmehrheit verurteilt. In beiden Fällen erkannten die Richter*innen Antiziganismus als Tatmotiv an. Diese Anerkennung ist enorm wichtig – dennoch wurden in der Urteilsverkündung problematische Argumentationen der Verteidigung übernommen. Im Laufe des Prozesses wurde ausdrücklich von Antiziganismus gesprochen. Das ist begrüßenswert, doch es wäre auch wichtig, diesen als eine spezifische Form von Rassismus zu kontextualisieren und so auch „Rassismus“ ausdrücklich zu benennen. Doch das ist in deutschen Gerichtsälen immer noch die Ausnahme – in der Regel wird von „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Ausländerhass“ gesprochen, egal, ob die Opfer deutsche Staatsangehörige sind. Auch in diesem Prozess war meistens von „Ausländerfeindlichkeit“ die Rede.
… und verwendet eine zu enge Rassismus-Definitionen
Das Verständnis von Rassismus, das die Prozessbeteiligten während des Prozesses vertraten, verfehlte in vielerlei Hinsicht den Kern des Problems.
Die Verteidigung wollte den Rassismusvorwurf damit entkräften, dass die Angeklagte auch Freundschaften sowie romantischen Beziehungen mit Migrant*innen pflegte. Doch diese Ansicht unterschlägt die tiefe strukturelle Verankerung von Rassismus in der Gesellschaft: auch enge Beziehungen zu migrantischen und nicht weißen Menschen befreien nicht davor, rassistisch zu denken und zu handeln.
Die Argumentation der Verteidigung wurde aber zumindest teilweise auch von den Richter*innen in der Urteilsverkündung übernommen: eine grundsätzliche Ausländer*innenfeindlichkeit der Angeklagten sei aufgrund ihrer vorangegangenen Beziehungen zu migrantischen Männern zu verneinen. Dieses entlastende Zugeständnis wurde im Urteil ergänzend hinzugefügt, obwohl die antiziganistische und somit rassistische Motivation der Taten bereits anerkannt worden war. Damit wird deutlich, dass die klare Benennung von Rassismus noch immer schwerfällt.
Eine rassistische Motivation wird auf diese Weise als feststehender unveränderlicher Charakterzug interpretiert. Nach diesem Narrativ gilt eine Person entweder als komplett rassistisch, oder überhaupt nicht rassistisch. Darin spiegelt sich die auch in der Justiz noch herrschende Vorstellung, Rassismus sei ausschließlich ein Problem am rechten Rand der Gesellschaft und äußere sich nur in manifestem Hass gegen Migrant*innen. Demnach sind nur „echte Nazis“ wirklich rassistisch.
Passend zu diesem Narrativ wurden von Seiten der Verteidigung immer wieder die Morde des NSU als Maßstab für die Bewertung einer Tat als rassistisch herangezogen. Die Verteidigung argumentierte mehrfach, im Fall des NSU sei das rassistische Motiv „glasklar“ gewesen, während dies bei der Angeklagten nicht der Fall sei. Mit diesem Vergleich wird der Anschein erweckt, eine Tat die nicht genauso schlimm sei wie die Taten des NSU, könne nicht rassistisch sein. Ein solches Ausspielen von neonazistischem Terror gegen andere rassistische Straftaten ist zynisch, denn die Grausamkeit der Taten des NSU löscht kaum die rassistischen Motive bei anderen Straftaten aus.
Gerade vor Gericht sollte nicht entscheidend sein, ob eine Person durch und durch rassistisch ist, sondern ob sie bei der angeklagten Tat rassistisch handelte. Alle Menschen, die in einer Gesellschaft sozialisiert werden, die auf Rassismus aufbaut, internalisieren rassistische Denkmuster. Rassismus auf einen „rechten Rand“ abwälzen zu wollen, trägt dazu bei, diese strukturelle Verankerung unsichtbar zu machen. Die Ansicht, einer Person müsse eine grundlegend rassistische Ideologie nachgewiesen werden, um ein rassistisches Tatmotiv bejahen zu können, verschleiert die Alltäglichkeit von Rassismus.
Im Abschlussplädoyer wurde von der Verteidigung richtigerweise festgestellt (wenn auch nicht in diesen Worten), dass alle Menschen in Deutschland rassistisch sozialisiert werden. Allerdings nutzte die Verteidigung die weite Verbreitung rassistischen Gedankenguts in der deutschen Gesellschaft als Rechtfertigung, um die rassistische Motivation der Angeklagten herunterzuspielen.
Richtig ist, dass Rassismus in unserer Gesellschaft strukturell verankert ist. Rassismus gegen Rom*nja sowie andere marginalisierte Gruppen ist eben leider keine Ausnahme in Deutschland. Das bedeutet aber nicht, dass rassistische Beweggründe weniger schwerwiegend sind. Im Gegenteil: Gerade weil Rassismus noch immer so weit verbreitet ist, ist es umso wichtiger, ihn vor Gericht zu benennen und sichtbar zu machen.
Rom*nja im deutschen Justizsystem
Rassismus gegen Rom*nja ist in Deutschland tief verwurzelt, somit auch in der deutschen Justiz. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Sinti*zze und Rom*nja in Statistiken der Berliner Polizei systematisch stigmatisiert werden. Die Anzahl erfasster antiziganistischer Straftaten ist 2019 gestiegen – der Zentralrat deutscher Sinti und Roma geht darüber hinaus von einer großen Dunkelziffer aus. Dennoch treten Rom*nja vor deutschen Gerichten selten als (Neben-)Kläger*innen auf. Umso wichtiger ist es, rassistisch motivierte Straftaten gegen Rom*nja auch als solche zu benennen.
Die Anerkennung und Benennung von Rassismus – insbesondere in Urteilsverkündungen – kann zu einer rassismuskompetenteren Justiz beitragen. Darauf hat zuletzt auch das Deutsche Institut für Menschenrechte hingewiesen. Diese Sichtbarmachung von Rassismus gegen Rom*nja gelingt im (noch nicht rechtskräftigen) Urteil des Berliner Landgerichts nur bedingt. Die Anerkennung des rassistischen Tatmotivs ist trotzdem erfreulich. Doch der Prozessverlauf und die Urteilsbegründung zeigen: Es bleibt noch viel Luft nach oben.