Die Bildungschancen für Kinder von Nichtakademiker_innen in Deutschland sind deutlich schlechter als die von Kindern von Akademiker_innen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, nicht unbekannt, nicht überraschend. Sie wird durch diverse Studien regelmäßig belegt, das Thema findet in vielen namhaften Zeitungen und Zeitschriften Beachtung. Eine gesellschaftliche Debatte ist jedoch nicht zu erkennen. Würde man Stereotypen bedienen wollen, würde man sagen, dass diejenigen, die die gesellschaftliche Debatte bestimmen, selbst nicht betroffen sind.
Zahlen und Fakten
Die letzte große Studie, die sich mit diesem Thema befasst, ist der Hochschul-Bildungs-Report 2020 des Stifterverbandes und von McKinsey. Der Jahresbericht 2017/18 vergleicht 100 Kinder aus Akademikerhaushalten mit 100 Kindern aus Nichtakademikerhaushalten von der Grundschule bis zur Promotion. Als Akademiker_in zählt dabei, wer mindestens einen Elternteil mit Hochschulabschluss hat, als Nichtakademiker_in all diejenigen, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben. Die Ergebnisse sind so eindeutig wie erschreckend:
Von 100 Grundschülern mit mindestens einem Akademiker-Elternteil beginnen 74 ein Studium, 63 machen einen Bachelorabschluss, 45 einen Masterabschluss, 10 promovieren.
Von 100 Grundschülern ohne einen Elternteil mit Hochschulabschluss beginnen 21 ein Studium, 15 machen einen Bachelorabschluss, 8 einen Masterabschluss, einer promoviert.
Daran sind mehrere Sachen bemerkenswert:
Zunächst ist festzustellen, dass sich die Frage von Bildungschancen nicht allein darauf beschränkt, wer es auf das Gymnasium schafft oder anderweitig eine Hochschulzugangsberechtigung erwirbt. Die Selektion ist an dieser Stelle nicht beendet, sondern setzt sich im Studium fort. Zweitens ist festzustellen, dass die Studienabbrecherquote während des Bachelorstudiums bei Kindern ohne akademischen Hintergrund mit 30 % deutlich höher liegt als bei Kindern mit akademischem Hintergrund (15 %). Drittens verweist der Bericht auf Erkenntnisse, dass die Entscheidung für oder gegen ein Masterstudium nahezu unabhängig von der Bachelorabschlussnote ist, sie also nahezu ausschließlich auf anderen Faktoren beruht. Für ein weiterführendes Studium entscheiden sich in dieser Situation Kinder von Akademiker_innen deutlich häufiger.
Diese Zahlen gewinnen noch an Dringlichkeit, wenn man sie zur Gesamtbevölkerung in Relation setzt. Wenn man die oben genannte Definition von Akademiker- bzw. Nichtakademiker_in anlegt, so kommen in Deutschland auf 200 000 Akademikerkinder ca. 1 Million Nichtakademikerkinder. Das Verhältnis liegt daher im Ausgangspunkt bei 1:5. An Universitäten bildet sich dies wie oben gezeigt nicht ab, hier finden sich beide Gruppen eher gleich stark wieder. Weiterhin werden die Unterschiede noch deutlicher, wenn innerhalb der Gruppe der Kinder ohne akademischen Elternteil weiter nach dem Schulabschluss der Eltern differenziert wird. Je niedriger der Schulabschluss der Eltern, desto geringer die Chancen der Kinder, das zeigt die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Ein weiterer Unterschied wird deutlich, wenn man die verschiedenen Abschlussziele betrachtet: Innerhalb der Studierenden, die als Abschlussziel Staatsexamen (ohne Lehramt) haben, besitzen 68 % einen akademischen Bildungshintergrund.
Die Suche nach den Gründen
Dem Thema des Zugangs von Kindern ohne akademischen Hintergrund zu Hochschulbildung widmen regelmäßig diverse Medien Artikel, so zum Beispiel Zeit Campus, die Welt, die Süddeutsche Zeitung oder die taz. Auf der Suche nach Gründen werden dabei üblicherweise drei Begründungsstränge bemüht:
I. Kein Geld
Studieren kostet. In Deutschland deutlich weniger als in anderen Staaten, aber es kostet dennoch. Möglicherweise bestehende Bafög-Ansprüche enden mit der Regelstudienzeit, es besteht ein ständiger Druck, das Studium so schnell wie möglich zu beenden. Ein Nebenjob neben dem Studium ist oft zwingend notwendig, darunter leidet jedoch das Studium. Stiftungen stellen nicht selten Anforderungen, die ohne akademischen Hintergrund von vornherein nicht erfüllbar sind. Gleichzeitig verzögert die Studienzeit den eigentlichen Einstieg ins Berufsleben, das erste „richtige“ Gehalt.
II. Geringere Wertschätzung akademischer Ausbildung
Weiterhin häufig argumentiert wird, dass Eltern, die selbst nicht studiert hätten, einem Studium geringeren Wert beimessen würden. Ein Studium sei nichts „Handfestes“, eine Ausbildung doch viel sinnvoller, Studieren führe nur zu Überheblichkeit. Selbst wenn diese Vorurteile nicht bestünden, könnten Eltern ohne eigenen Studienabschluss ihren Kindern jedoch nicht helfen. Zunächst könnten sie ihren Kindern nicht die nötige Vorbildung mitgeben, Dinge vermitteln, die andere Kinder selbstverständlich wüssten. Während des Studiums böten sie dann keine taugliche Anlaufstelle für Probleme, da sie diese nicht verstünden und nicht beurteilen könnten. Das sei zwar nicht böse gemeint, verschaffe den Kindern aber einen Nachteil gegenüber ihren Kommiliton_innen.
III. Selbstzweifel
Dies korrespondiert mit dem dritten Argumentationsstrang: Kinder ohne akademischen Hintergrund seien geprägt von Selbstzweifeln. Sie fühlten sich unterlegen aufgrund mangelnden Vorwissens, mangelnder Ausdrucksfähigkeit oder schlichtweg, weil sie eine völlig andere Lebensrealität gewohnt seien. In der Welt, aus der sie kämen, seien die Eltern von Freunden eben nicht Diplomaten. Daher würden sie schon von Beginn an in Frage stellen, ob sie überhaupt für ein Studium geeignet seien; wenn sie sich letztlich dafür entschieden, wählten sie eher nicht traditionell prestigeträchtige Fächer wie Jura oder Medizin. Darüber hinaus würden sie den sozialen Aufstieg stets mit der Entfremdung von ihrer Herkunft bzw. ihrer Familie erkaufen. All dies schaffe Hemmschwellen, die zu überwinden zusätzliche Kraft koste.
Ist das wirklich so?
Dass in diesen Argumentationssträngen viel Wahrheit steckt, belegen unzählige Erfahrungsberichte von Kindern, die als erste in ihrer Familie ein Hochschulstudium absolvierten. Die genannten Aspekte äußern sich verschieden, sie sind unterschiedlich stark ausgeprägt, teilweise stimmen sie auch gerade nicht, beispielsweise, wenn Eltern gerne und gut ein Studium finanzieren können oder von der Idee zu studieren völlig begeistert sind. Doch selbst dann oder besser gerade dann ist eine Sache auffällig: So pauschal die oben genannten Thesen formuliert sind und so wenig sie im Einzelfall zutreffen mögen, so sind sie doch Kindern aus Nichtakademikerfamilien stets bekannt und ihr Zutreffen oder Nicht-Zutreffen steht ihnen deutlich vor Augen.
Beispielhaft für einen derartigen Erfahrungsbericht ist der 2016 erschienene Beitrag „Wie ich es als Arbeiterkind vom Dorf nach Oxford schaffte“. Die Autorin berichtet darin über ihren Weg von ihrem Heimatdorf zunächst an eine deutsche Universität und später nach Oxford. Auf die Frage, warum Kinder von Arbeiter_innen nicht stärker nach Zugang zu höherer Bildung streben, steht bei ihr am Ende die Erkenntnis, dass es an Vorbildern fehlt. Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem bestimmte Berufe, bestimmte gesellschaftliche Positionen nicht vorkommen, dem fehlt es an greifbaren Zielen und der wird nie auf die Idee kommen, diesen Weg ebenfalls gehen zu wollen. You can’t be what you can’t see.
Ist das schon alles?
Die Zahlen sprechen für sich und auch den angebrachten Begründungssträngen lässt sich ein gewisser Wahrheitsgehalt nicht absprechen. Aber ist das wirklich schon alles, was man zu diesem Thema sagen kann?
Es beginnt bei den Zahlen: Wie verändern sich diese, wenn man die Kategorie „Nichtakademiker_innenkind“ weiter ausdifferenziert? Wie sieht es aus bei einer intersektionalen Betrachtung? Wie unterscheiden sich die Zahlen bei verschiedenen Studienfächern, verschiedenen Studienorten?
Es setzt sich bei näherer Betrachtung des Studiums fort: Wer studiert unter welchen Rahmenbedingungen? Wer wohnt noch zu Hause, wer zieht fürs Studium in eine andere Stadt? Wer geht während des Studiums ins Ausland? Wer nimmt welche zusätzlichen Möglichkeiten wahr?
Und letztlich lässt auch die Begründung einige Fragen offen:
Etwa, welche Rolle die Schulen bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium spielen. Ist Gymnasium gleich Gymnasium? Oder auch, mit welchen Erwartungen Lehrende an ihre Studierenden herantreten und von welchen Vorerfahrungen und Lebensumständen sie dabei ausgehen. Welchen familiären Hintergrund haben Personen, die an Universitäten unterrichten? Gibt es eine Form von Assimilationsdruck gegenüber den Kindern aus Nichtakademikerhaushalten, sich an die Lebensweisen ihrer Kommilitonen anzupassen? Und die vielleicht zentralste Frage: Was wäre eine denkbare Gegenstrategie für Universitäten?
Diverse Fragen bleiben regelmäßig offen oder werden erst gar nicht gestellt. Doch vielleicht genügt es für den Anfang, wenn sich alle, die in irgendeiner Rolle Teil des universitären Betriebs sind, einmal die eigene Position vergegenwärtigen. Und sich dann in einem zweiten Schritt fragen, in welcher Position sie stattdessen sein könnten. Biographien sind vielfältig und von verschiedenen Faktoren geprägt, umso wichtiger ist, sich die eigene – gegebenenfalls privilegierte – Position bewusst zu machen und zu reflektieren. In vielen Fällen kann bereits die Wahrnehmung dieser Faktoren, insbesondere durch Lehrende an Universitäten genügen, um Hürden abzubauen – egal, aus welchem Grund sie bestehen.