Am 16. März besuchten wir den NSU-Prozess am Münchner Oberlandesgericht. Dies war Teil unseres Praktikums bei Rechtsanwalt Carsten Ilius, der die Witwe des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık in der Nebenklage vertritt. Für uns beide war es der erste Besuch eines Strafprozesses in Deutschland. Hier berichten wir von unseren Erwartungen und Eindrücken.
Unsere Erwartungen
Die Aufmerksamkeit, die der NSU-Prozess sowohl in den Medien als auch im politischen und juristischen Kontext erregt, legt den Schluss nahe, dass Prozessbesuche mit vielen jeweils individuellen Erwartungen und Vorstellungen einhergehen. Wir wussten allerdings nicht so recht, wie dieser Tag ablaufen würde. Natürlich hatten wir bestimmte Bilder im Kopf, zum Beispiel erwarteten wir, dass die Generalbundesanwälte viele Fragen an Zeug_innen und die Angeklagten stellen würden. Konkrete Vorstellungen hatten wir aber nicht. Für uns war es wichtig, den NSU-Prozess mit eigenen Augen zu sehen. Das liegt nicht nur daran, dass uns die Aussagen Zschäpes an jenem Verhandlungstag interessierten. Im Rahmen unseres Praktikums bei Herrn Ilius beschäftigen wir uns unter anderem mit institutionellem Rassismus und rassistischer Polizeigewalt. Für uns ist deshalb besonders die Aufarbeitung der Ermittlungen während der Aufklärung der NSU-Morde interessant.
Erste Eindrücke
Es ist ein kalter Märzmorgen in München. Vor dem Oberlandesgericht warten bereits Besucher_innen auf den Einlass in den Gerichtssaal. Heute ist der 271. Verhandlungstag des NSU-Prozesses und zum dritten Mal sollen heute Antworten Beate Zschäpes auf Fragen des Gerichts verlesen werden. Die Besucher_innen bewegen sich langsam durch die Sicherheitskontrollen und in Saal A101 hinein. Die Bänke füllen sich stetig. Viele Journalist_innen sind anwesend, ebenso wie einige Studierende, mit denen wir uns unterhalten. Der Saal wirkt eng und dunkel. Es ist ein moderner Raum ohne Fenster. Über einer Tür hängt ein hölzernes Kreuz. Beate Zschäpe betritt den Saal, ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie wirkt entspannt und selbstbewusst. Auf uns wirkt es fast, als träte sie auf eine Bühne, auf der sie Raum zur Selbstinszenierung findet. Für einige Minuten ist der Saal nur vom Klicken der Auslöser der vielen Kameras erfüllt. Dann treten die Richter_innen ein und eröffnen die Verhandlung.
Die Verhandlung beginnt
Der Senat beginnt mit der Vernehmung einiger Polizeibeamt_innen als Zeug_innen. Ein Polizist erzählt davon, wie er die Mordwaffe in einem Schutthaufen vor der abgebrannten Zwickauer Wohnung gefunden habe. Damals sei er noch in Ausbildung gewesen und habe sich sehr erschrocken. Etwas unbeholfen wirkt er und es entstehen einige fast komische Situationen. Ein Anwalt des Angeklagten Ralf Wohlleben, Olaf Klemke, macht eine leicht süffisante Bemerkung über den damaligen Chef des Beamten, der bei den Arbeiten scheinbar nicht mitgeholfen hat, sondern nur beobachtete. Der vorsitzende Richter schmunzelt, der Saal lacht – Beate Zschäpe auch. Wir stellen uns vor, was Angehörige einer Opferfamilie in einem solchen Moment wohl fühlen müssen.
Zschäpes Antworten
Nach der Mittagspause werden Beate Zschäpes Antworten verlesen. Sie entlastet den Mitangeklagten André E., er habe von den Mordtaten nichts gewusst. Gleichzeitig sei er jedoch ein treuer Freund und Unterstützer gewesen. Kontakt habe regelmäßig bestanden. Des Weiteren werden Details aus dem Verhältnis zwischen Zschäpe und Böhnhardt präsentiert. Sie zeichnet sich selbst als die Unterlegene in dieser Beziehung, etwa indem sie beschreibt, wie Böhnhardt sie geschlagen habe, wenn ihm in einer Diskussion die Argumente ausgingen. Deshalb habe sie Angst vor ihm und seinen Ausbrüchen gehabt. Bezogen auf das NSU-Bekennervideo gibt sie an, nicht gewusst zu haben, dass auch Mordtaten zum Inhalt gehören könnten. Den Gedanken an diese Möglichkeit habe sie stets verdrängt. Außerdem meint sie, dass sie mit einem solchen Video nicht einverstanden gewesen wäre. In ihrer Darstellung der Tage nach dem 4.11.2011 sind immer noch viele Lücken.
Die Normalität
Nach diesem Tag haben wir viele Eindrücke von dem Prozess erlangt, die uns beschäftigen. Hauptsächlich ist dies die Stimmung beim Verhandlungstag. Diese Stimmung mag nicht zuletzt an der Menge der Verhandlungstage liegen. Die Normalität, mit der Beteiligte dem Prozess zu folgen scheinen, ist für uns als erstmalige Besucherinnen schockierend. Es ist für uns schwer zu begreifen, dass die Aufarbeitung der schrecklichen Verbrechen des NSU und der damit verbundenen menschenverachtenden Ideologie für die Akteur_innen hier zum Alltag geworden ist. Dieser Kontrast war für uns ein einschneidender Eindruck. Für uns war es eben der erste Tag beim NSU-Prozess, für die meisten der Beteiligten schon der 271.