Das Bundesverfassungsgericht und die „Ehe für alle“: Zwischen Gleichstellungspolitik und Staatsorganisationsrecht

Wenn es in der jüngeren Vergangenheit um die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren ging, konnten sich deren Befürworter*innen auf das Bundesverfassungsgericht verlassen. Letzte Woche scheiterten jedoch Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, die Gesetzentwürfe zur Eheöffnung vor dem Schicksal der Erledigung bewahren wollten. Ein kurzer Rückblick, bevor morgen nun doch über die “Ehe für alle“ abgestimmt werden soll.

Anlass des Verfahrens

Anlass des Verfahrens waren insgesamt drei Gesetzentwürfe, die die Einführung eines Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare zum Inhalt hatten. Entsprechende Initiativen hatten sowohl die beiden Oppositionsfraktionen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE, als auch der Bundesrat in den Bundestag eingebracht. Nach Überweisung in den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Rechtsausschuss) sowie einer öffentlichen Anhörung am 28. September 2015 wurde die dortige Beschlussfassung fünfundzwanzig bzw. acht Mal vertagt. Angesichts des nahenden Endes der 18. Legislaturperiode droht diesen Vorlagen nun die Erledigung nach dem Grundsatz der Diskontinuität (vgl. § 125 S. 1 GO-BT).

Um doch noch einen Beschluss durch den Bundestag zu erreichen, sollte der Rechtsausschuss vor dem Bundesverfassungsgericht zur rechtzeitigen Beschlussfassung verpflichtet werden. Die antragsstellende Fraktion (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sah sich durch die Vertagungspraxis des Rechtsausschusses in ihrem Gesetzesinitiativrecht aus Art. 76 Abs. 1 GG verletzt. Im Wege der Prozessstandschaft wurde dasselbe Recht für den Bundestag hinsichtlich des Gesetzeseinwurfs der beigetretenen Fraktion DIE LINKE sowie des Bundesratsentwurfs gerügt. Nach Art. 76 Abs. 1 GG hätten Initiativberechtige nicht nur einen Anspruch auf Beratung, sondern auch auf Beschlussfassung ihrer Vorlagen. Ansonsten liefe die Befugnis zur Gesetzesinitiative leer. Da weder der Schutz des Koalitionsfriedens noch die (vermeintliche) Verfassungswidrigkeit der Gesetzentwürfe als Gründe für weiteres Zuwarten in Betracht kämen und auch ein etwaiger Beratungsbedarf (über-)erfüllt sei, bestehe ein Anspruch auf Beschlussfassung. Um die organschaftlichen Rechte aus Art. 76 Abs. 1 GG zu sichern, sei der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG dringend geboten. Wenn nicht wegen offensichtlicher Begründetheit des Hauptsacheverfahrens, dann in jedem Fall auf Grundlage einer Folgenabwägung.

Entscheidung des Gerichts

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lehnte die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Über die Begründetheit von Anträgen nach § 32 BVerfGG wird grundsätzlich im Rahmen einer Doppelhypothese entschieden. Dabei werden die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, aber die Hauptsache Erfolg hätte, mit den Nachteilen vergleichen, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, die Hauptsache aber keinen Erfolg hätte (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; stRpsr). In die dabei vorgenommene Folgenabwägung ist das Bundesverfassungsgericht jedoch gar nicht erst eingetreten, da die Anträge im Hauptsacheverfahren offensichtlich keinen Erfolg gehabt hätten.

Schon auf der Ebene der Zulässigkeit hat das Bundesverfassungsgericht Bedenken geäußert. Insbesondere die Antragsbefugnis erscheine fraglich, da sich der Befassungsanspruch nach Art. 76 Abs. 1 GG gegen das Plenum Bundestags richte, die Ausschusstätigkeit hingegen eine „bloß vorbereitende Handlung des parlamentarischen Innenbereichs“ sei (Rn. 32[1]). Hinsichtlich der Prozessstandschaft für den Bundestag sei zu bedenken, dass die Ausschüsse eine Befassung des Plenums nicht verhindern könnten (vgl. § 80 Abs. 2 GO-BT).

Die Zulässigkeitsfragen müssten jedoch nicht abschließend beantwortet werden, da ein Verpflichtungsantrag im Organstreitverfahren jedenfalls offensichtlich unbegründet wäre. Eine systematische Zusammenschau aus Art. 76 Abs. 1, Art. 77 Abs. 1 und Art. 78 GG ergebe zwar einen Befassungsanspruch (so bereits BVerfGE 1, 144 <153>). Dieser sei auch, wie Art. 76 Abs. 3 Satz 6 GG deklaratorisch festhalte, „in angemessener Frist“ zu erfüllen. Eine Verletzung des Befassungsanspruchs komme jedoch nur bei missbräuchlichem Vorgehen zu Lasten parlamentarischer Minderheiten in Betracht (Rn. 38). Dies sei der Fall, wenn die Beschlussfassung willkürlich verschleppt oder das Initiativrecht nach Art. 76 Abs. 1 GG entleert werde (Rn. 39). Beides könne vorliegend nicht festgestellt werden. Das Vorbringen des Antragsgegners, der Verzicht sei auf die notwendige und noch nicht abgeschlossene Konsensbildung zurückzuführen, halte einer Willkürprüfung stand. Angesichts der Tatsache, dass das Plenum des Bundestags zudem mehrfach zu den Gesetzentwürfen debattierte, könne auch von einem „Leerlaufen“ des Gesetzesinitiativrechts keine Rede sein. Eine Verletzung des Befassungsanspruchs aus Art. 76 Abs. 1 GG scheide somit aus. Dementsprechend komme auch der Erlass einer Anordnung nach § 32 BVerfGG nicht in Betracht.

Geordneter Rückzug oder Schlichtung eines Organstreits?

Ist dieser Beschluss nun ein Anzeichen dafür, dass sich das Bundesverfassungsgericht aus dem Feld der Lebenspartnerschaft langsam zurückzieht oder handelt es sich „lediglich“ um die Schlichtung eines Organstreits? Für beide Lesarten finden sich Anhaltspunkte.

In insgesamt sechs Entscheidungen zwischen 2009 und 2013 erklärte das Bundesverfassungsgericht diverse Ungleichbehandlungen der Lebenspartnerschaft gegenüber der Ehe für verfassungswidrig. Viele hielten es nach der Entscheidung zur Sukzessivadoption für eine Frage der Zeit, bis auch das Verbot der gemeinschaftlichen Adoption und damit einer der bedeutendsten Unterschiede zur Ehe vom Bundesverfassungsgericht gekippt würde. Doch nach der Entscheidung zum Ehegattensplitting im Mai 2013 riss die Erfolgssträhne der Lebenspartnerschaft in Karlsruhe. Im Jahr 2014 scheiterte eine Richtervorlage zur Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von der gemeinschaftlichen Adoption an Zulässigkeitshürden. Ob die lückenhafte Begründung des Vorlagegerichts eine Entscheidung zur Sache wirklich verunmöglichte oder ob nicht auch die teilweise geäußerte Kritik an der Entscheidung zur Sukzessivadoption die Karlsruher Enthaltsamkeit beförderte, weiß nur die Erste Kammer des Ersten Senats.

Unabhängig von solchen Gedankenspielen unterscheidet sich die aktuelle Entscheidung von dem Kammerbeschluss aber insofern, als sie sich ausführlich zu Fragen des materiellen Rechts äußert. Die „Ehe für alle“ war dafür zwar Anlass. Gegenstand des Verfahrens war hingegen ein Organstreit, der in Zukunft wohl eher in der Vorlesung „Staatsorganisationsrecht“ als im Antidiskriminierungsrecht seinen Platz haben wird. Gleichwohl soll damit nicht der breitere Kontext des Verfahrens aus dem Blick geraten. Hätte das Bundesverfassungsgericht die einstweilige Anordnung erlassen, hätte zunächst der Rechtsausschuss und dann auch der Bundestag mit großer Wahrscheinlichkeit noch über die Eheöffnung Beschluss gefasst (und sie womöglich auf den Weg gebracht). Insofern ist auch diese Entscheidung ein Beispiel für richterliche Selbstbeschränkung, indem sie die Frage, wann über ein Gesetzesvorhaben abzustimmen ist, bis zur Missbrauchsgrenze in die Hände des Parlaments legt. Dass es morgen nun doch zur Abstimmung über die „Ehe für alle“ kommen soll, damit hatte auch das Bundesverfassungsgericht nicht mehr gerechnet (vgl. Rn. 39).

Also: geordneter Rückzug aus einer Gleichstellungsproblematik oder klassisches Staatsorganisationsrecht? Wie so oft, liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. „Judicial activism“ kann dem Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich jedenfalls nicht (mehr) vorgeworfen werden.

[1] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Juni 2017 – 2 BvQ 29/ 17 -, http://www.bverfg.de/e/qs20170614_2bvq002917.html

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