Warum Frauen* 2019 streiken – Wie Gesetze zur sozialen Wirklichkeit werden

Seit 100 Jahren dürfen Frauen wählen, seit 1949 ist ihre Gleichheit im Grundgesetz verankert und schon 13 Jahre lang wird Deutschland von einer Frau regiert. Doch auch im Jahre 2019 kann von Geschlechtergerechtigkeit nicht die Rede sein. Deshalb ruft eine breites Netzwerk am 8. März 2019 zum bundesweiten Frauen*streik auf. Die Botschaft: Gesetze können uns formell gleichberechtigen, doch echte Gleichstellung muss erst erstritten werden.

Das wusste auch schon Elisabeth Selbert, eine der vier „Mütter“ des Grundgesetzes, als sie den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ gegen vehementen Widerstand in das Grundgesetz verhandelte. Ihr schlichter Satz hatte die Verfassungswidrigkeit aller damals geltenden sozial- und familienrechtlichen Regelungen zur Folge. Doch noch bis 1977 lautete der § 1356 BGB: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, so weit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Andere diskriminierende Normen wie das Nachtarbeitsverbot oder die Straflosigkeit der Vergewaltigung in der Ehe hielten sogar noch länger. Selbert nannte diesen Zustand zurecht einen „permanenten Verfassungsbruch“. Die Verfassung sah die Gleichberechtigung von Mann und Frau vor. Die Realität und sogar die einfach-rechtlichen Gesetze erzählten eine andere Geschichte.

Schlägt man heute die Gesetzbücher auf, findet man nur noch wenige solcher offensichtlich sexistischen Normen. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde 1994 sogar ein staatlicher Auftrag, Gleichberechtigung zu fördern und Nachteile zu beseitigen, in Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz (GG) eingefügt. Damit ergänzt Abs. 2 den allgemeinen Gleichheitssatz in Abs. 1 und die spezifischen Diskriminierungsverbote in Abs. 3, zu denen auch das Merkmal „Geschlecht“ gehört, durch ein ausdrückliches Gleichberechtigungsgebot. Erläuternd: Der Begriff „Frau“ ist eine soziale Zuschreibung, die aufgrund von äußerlichen Merkmalen gemacht wird und nicht mit der geschlechtlichen Identifikation der jeweiligen Person übereinstimmen muss. Im Folgenden verwende ich das Wort „Frau“, um deutlich zu machen, dass es sich um Diskriminierungen handelt, die gerade Personen betreffen, denen dieses Geschlecht zugeschrieben wird. Im Begriff „Frauen*streik“ verwende ich ein Gender-Sternchen, da dies die vorrangig verwendete Bezeichnung der Organisator*innen des Streiks ist und auch Personen sichtbar machen soll, die sich nicht als Frau identifizieren.

Neben dem Recht haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die sozialen Wirklichkeiten vieler Frauen gewandelt. Es wäre jedoch eine gewagte These, dies auf die rechtlichen Grundlagen zurückzuführen. Vielmehr ist der Fortschritt den zahlreiche Protest- und Frauenbewegungen zu verdanken. Von tatsächlicher Gleichstellung kann aber auch heute nicht gesprochen werden: Frauen verdienen im Schnitt 22% weniger als ihre männlichen Kollegen, nur jede siebte ordentliche Jura-Professur ist mit einer Frau besetzt und in Paarbeziehungen kümmern sich vorrangig Frauen um Kind und Haushalt. Der revolutionäre Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 GG scheint sich immer noch nicht in den Wirklichkeiten von Frauen widerzuspiegeln. Doch was braucht es, dass Recht, also eine gesetzliche oder gar verfassungsrechtliche Normierung, Realität wird?

Der lange Weg zur Gleichheit im Gesetz

Um zu verstehen, wie es wirkt, muss verstanden werden, wie Recht entsteht. Recht ist Ausdruck bestehender Machtverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. So muss danach gefragt werden, wer das Privileg hat, Recht zu setzen, und mit welchen Interessen dies geschieht. Betrachtet man das Jahr 1948 wird deutlich: Vorrangig Männer haben entsprechende gesellschaftliche Machtpositionen inne, die ihnen Einfluss auf die Aushandlung der Verfassung ermöglichen. Nur wenige handeln dabei nicht im Eigeninteresse. Vielmehr steht der Erhalt patriarchaler Machtverhältnisse im Vordergrund. So sollte der Gleichheitsartikel, wäre es nach den elf Männern des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee gegangen, ohne das Wort „Frau“ ausgekommen. Etwas Verbesserung brachte der Entwurf des Parlamentarischen Rates, dem immerhin vier Frauen nebst 65 Männern angehörten. So lautete der Art. 3 Abs. 2 GG: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Doch was gut klingt, hat wenig Effekt: Der Satz erstreckt sich lediglich auf die staatsbürgerliche Dimension, was maßgeblich das allgemeine Wahlrecht meint. Die patriarchale Ordnung wäre somit aufrechterhalten worden – und das im Sinne der zahlenmäßig überlegenen „Väter“ des Grundgesetzes.

Einer war dies nicht genug: Elisabeth Selbert forderte ein Bekenntnis zur vollumfänglichen Gleichberechtigung von Frau und Mann. Sie wusste Recht als ein Instrument einzusetzen, das die Grenzen von Macht neu setzt. Doch der Parlamentarische Rat lehnte den Vorschlag Selberts, den Gleichheitssatz in „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ umzuformulieren, ab – gleich dreimal in Folge. Die Frauen, die das Zusammenleben im Nachkriegsdeutschland ohne Männer mit größter Selbstverständlichkeit organisierten, nahmen dies nicht hin. Der öffentliche Druck von Frauen über alle Konfessions- und Parteigrenzen hinweg, der sich in Unmengen von Briefen in den Poststellen materialisierte, erwirkte die Annahme des Gleichheitssatzes. Der Kampf um die Gleichstellung von Mann und Frau im Grundgesetz zeigt: Das „wer“ hinter dem Gesetz bestimmt das „was“ im Gesetz. Das „was“ im Gesetz bestimmt aber noch lange nicht die Realität.

Der noch längere Weg zur wirklichen Gleichheit

Die bloße Existenz des Art. 3 Abs. 2 GG hat der patriarchalen Herrschaft kein Ende gesetzt. Ohne Zweifel ist er aber im Kampf um Gleichberechtigung eine unverzichtbare Grundlage; eine Verhandlungsbasis. Denn auf Recht nimmt nicht nur die Gesellschaft Einfluss, wie der erfolgreiche Widerstand unzähliger Frauen gegen den zunächst zahnlosen Gleichheitssatz beweist. Recht nimmt auch auf die Gesellschaft Einfluss, indem es bestimmte Verhaltensweisen oder Grundsätze normiert. So setzt das Grundgesetz mit Art. 3 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtliche Norm, an der sich nicht nur die einfachen Gesetze messen lassen müssen, sondern auch eine Gesellschaft. Genau dies fordern Frauenbewegungen, wie der Frauen*streik, ein. Sie verhelfen der verfassungsrechtlichen Norm zu tatsächlicher Wirkung. Sie werfen die Fragen des alltäglichen Lebens und der Realitäten diverser Frauen auf. Sie formulieren eine unmissverständliche Kritik an dem Bestehenden und greifen zur Verdeutlichung dieser zu Mitteln des zivilen Ungehorsams. Sie zeigen auf, was die abstrakte, rechtliche Norm ausbuchstabiert bedeutet und bringen sie damit erst in das Bewusstsein einer Gesellschaft.

Der Frauen*streik ruft Frauen am 8. März 2019 dazu auf, ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit niederzulegen. Damit ist er einmal mehr Erinnerung daran, dass Gesetze Frauen und Männer in Deutschland zwar gleichstellen, die Realität aber noch weit davon entfernt ist. Die Initiative sorgt dafür, dass aus dem baldigen Feiertag ein Kampftag bleibt, denn zu feiern gibt es wenig. Es lässt sich sagen: So wie das Schaffen einer progressiven Gesetzeslage förderlich für gesellschaftlichen Wandel ist, ist der Kampf um diesen Wandel unentbehrlich für die tatsächliche Wirkung der Norm. Oder anders: Gleichberechtigung auf dem Papier bleibt wirkungslos, wenn sie nicht jeden Tag von Menschen erneut erstritten wird.

Auf Reden Taten folgen lassen.
Traumatisierung im Gerichtssaal – Die Unzumutbarkeit des Umgangs mit Opferzeuginnen sexualisierter Gewalt an deutschen Gerichten