„Es war als würde ich durch die Hölle gehen – schlimmer als die Hölle“, sagt Anna über den Prozess um ihre Vergewaltigung. Dass Opferzeuginnen von Sexualstraftaten durch Gerichtsverfahren re-traumatisiert werden, ist in Deutschland keine Seltenheit. In einer Paneldiskussion an der Humboldt-Universität zu Berlin setzten sich Expertinnen mit dieser Problematik auseinander.
Gemeinsam mit dem Deutschen Juristinnenbund (djb) veranstaltete der Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien am 22. November 2018 anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen einen Abend zum Thema „Opferschutz in Strafverfahren wegen geschlechtsspezifischer Gewalt“. Denn aktuell mehren sich Stimmen, die Rechte der Opferzeuginnen in Strafverfahren zurückdrängen wollen. Gerade bei Sexualstraftaten werden Opferzeuginnenrechte und die Unschuldsvermutung häufig gegeneinander ausgespielt.
Starke Opferzeuginnenrechte als Voraussetzung der effektiven Verfolgung geschlechtsspezifischer Gewalt
Nicole Rosenbach, Autorin der WDR-Dokumentation „Vergewaltigt. Wir zeigen an!“, führte zum Einstieg der Veranstaltung einige Ausschnitte ihres Films vor. Anna ist eine der Frauen aus dem Dokumentarfilm, die ihren sexuellen Missbrauch angezeigt hat. Sie musste sich in dem Gerichtsverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs die Videoaufnahme ihrer eigenen Vergewaltigung vollständig und im Beisein der Täter anschauen. Bis dahin konnte sie sich nicht an die Geschehnisse erinnern. Solche Gerichtspraktiken sind leider kein Einzelfall. Gewaltbetroffene Frauen zu unterstützen, statt ihnen den juristischen Weg zu erschweren, ist jedoch Voraussetzung in einer geschlechtergerechten Gesellschaft. Starke Opferzeuginnenrechte sind damit zwingend notwendig und ermöglichen erst die effektive Verfolgung geschlechtsspezifischer Gewalt vor Gericht. Dafür müssen prozessuale Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die vollständige Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben ist deshalb längst überfällig. Mit Inkrafttreten der Istanbul-Konvention am 01. Februar gibt neben der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) sowie der EU-Opferschutzrichtlinie (2012/29/EU) ein weiteres völkerrechtliches Instrument mit Vorgaben zum Schutz und der Behandlung der Opferzeuginnen von geschlechtsbezogener Gewalt. Diese Regelungswerke sind in Deutschland jedoch noch nicht umgesetzt worden. Statt Schutz erfahren betroffene Frauen sowohl in gerichtlichen Prozessen als auch davor im Ermittlungsverfahren immer wieder Re-Viktimisierung.
Doch nicht nur die Verfahren selbst sind höchst problematisch. Bis es überhaupt zu den Gerichtsverhandlungen kommt, vergehen oftmals Jahre. Derartige Verschleppungen führen zu psychisch belastenden Wartezeiten für Opferzeuginnen. Zusätzlich erhöht sich die Gefahr von Beweisverlusten. Dabei besteht gerade aus Art. 49 Abs. 1 der Istanbul-Konvention die Verpflichtung, sicherzustellen, Verzögerungen zu verhindern und Verfahren sowohl im Rahmen der Ermittlungen als auch die gerichtlichen Prozesse zu beschleunigen. Um dieser Verpflichtung zu genügen, muss jedoch deutlich Personal aufgestockt werden.
Das Problem der Täter-Opfer-Umkehr
Auch die Befragungen der Opferzeuginnen stellt häufig eine Zumutung dar. Fragen zum sexuellen Vorleben oder ihrem Auftreten in Social-Media-Kanälen sollen die Glaubwürdigkeit der Opferzeugin überprüfen. Die dadurch reproduzierten Genderstereotype und Vergewaltigungsmythen führen zur sogenannten Täter-Opfer-Umkehr. Besonders in die öffentliche Kritik geraten ist dies durch einen Fall in Irland, bei dem die Kleidung – speziell die „zu knappe“ Unterhose – der Opferzeugin beweisen sollte, dass diese offen für sexuellen Kontakt gewesen sei. Die Schädigung der Opferzeuginnen wird zusätzlich mit Fragen wie: „Wissen Sie, was sie dem Mann damit antun?“ verursacht, die das Bild einer Frau zeichnen, die mutwillig das Leben eines Mannes zerstört. Auch Katja Krieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) e.V. berichtet in der Dokumentation, dass Opferzeuginnen häufig das Gefühl hätten, selbst als Beschuldigte wahrgenommen zu werden. Statt allein das Verhalten des Täters zu untersuchen, wird die Verantwortung bei den Opferzeuginnen gesucht. Diese fühlen sich dadurch für den Übergriff verantwortlich, sodass es zu einer sekundären Viktimisierung kommt. Jedoch sollte gerade die Vermeidung einer solchen Ziel des Opferschutzes sein. Abwertende und über das notwendige Maß hinausgehende Fragen dürfen nicht weiter Teil der Befragungen sein. Dies findet auch Eingang in die EU-Opferschutzrichtlinie sowie die Istanbul-Konvention. § 48 StPO legt Zeuginnen die Pflicht zur Aussage vor Gericht im Interesse des Strafprozesses auf. Daraus kann die Fürsorgepflicht des Staates abgeleitet werden, die Belastungen für Opferzeuginnen im Prozess gering zu halten. In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, wie zumeist bei Verfahren wegen sexueller Gewalt, sind Opferzeuginnen häufig das einzige Beweismittel. Die gerichtliche Fürsorgepflicht wird dem nicht im Ansatz gerecht. Auch § 68a StPO, der die Beschränkung des Fragerechts vor Gericht aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes regelt, kommt in der Praxis nicht ausreichend zur Anwendung, obwohl er nach den internationalen Regelungen ausgelegt werden muss. Sowohl die Opferschutzrichtlinie als auch die Istanbul-Konvention sieht vor, dass Befragungen zum Privatleben des Opfers nicht zulässig sind, wenn dies nicht im Zusammenhang mit der Straftat steht. Das sexuelle Vorleben der Opferzeugin spielt in keinem Fall eine Rolle für den Strafprozess einer möglichen Vergewaltigung. Dahingehende Fragen sind demnach nicht zulässig. Gleichzeitig zeigt die fehlende Anwendung der und Berufung auf die Istanbul-Konvention, dass es ihr an Bekanntheitsgrad mangelt. „Diesen Missständen kann nur mit verpflichtenden Fortbildungen für Justiz-, Polizei- und Vollzugsbeamt*innen begegnet werden.“, fordert auch Sabine Kräuter-Stockton, GREVIO-Mitglied und Oberstaatsanwältin in Saarbrücken. Nur auf diese Art können sie beginnen, Geschlechterstereotype und Vergewaltigungsmythen während ihrer Arbeit zu reflektieren und versuchen, den Rechten und Bedürfnissen der Opferzeuginnen in den Strafverfahren gerecht zu werden.
Verstärkte Einschränkung der Vertretung von Opferzeuginnen
Um die Opferzeuginnen zu unterstützen, besteht in Deutschland die Möglichkeit der Nebenklagevertretung. Die Vertretung der Opferzeuginnen wird jedoch in den letzten Jahren immer weiter eingeschränkt. So berichtet Christina Clemm, Nebenklagevertreterin und Fachanwältin für Strafrecht in Berlin, beispielsweise, dass Nebenklagevertretungen häufig die Akteneinsicht verweigert wird, wenn eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt. Gerade bei Fällen sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt ist dies jedoch meistens der Fall. Argumentiert wird, die Zeuginnenaussage könne sonst beeinträchtigt und an den Akteninhalt angepasst werden. Dieser Argumentation ist entschieden zu widersprechen. In der Regel geben Nebenklagevertreter*innen die Akten bewusst nicht an ihre Mandantinnen weiter, um eine Entwertung der Zeuginnenaussage nicht zu riskieren. Eine Verweigerung der Akteneinsicht macht eine effektive Arbeit der Nebenklagevertretungen jedoch unmöglich. Die Befragung kann nicht ordentlich vorbereitet werden und Beweisanträge können nur ins Blaue hinein gestellt werden. Eine Verweigerung der Akteneinsicht verletzt zudem die Istanbul-Konvention, Art. 56 Abs. 1 lit. d. Schließlich reiht sich ein weiterer Umstand in die Beeinträchtigung der Arbeit der Nebenklagevertretungen ein: Da Nebenklägerinnen und damit auch ihre Vertretungen keine zwingenden Beteiligten im Strafverfahren sind, erfolgen Terminierungen der Gerichte ohne Rücksichtnahme auf sie. Wichtige Termine finden damit immer wieder ohne die Nebenklagevertreter*innen statt. Somit können Nebenklägerinnen ihre Rechte, wie zum Beispiel Fragerechte und Beweisanträge, nicht hinreichend wahrnehmen. Für einen erfolgreichen Opferzeuginnenschutz muss durch gesetzliche Regelungen sichergestellt werden, dass die Nebenklägerinnen durch ihre Vertretungen ihre Rechte wahrnehmen können.
Flickenteppich Opferzeuginnenschutz?
Der derzeitige Stand des Rechts und die mangelhafte Umsetzung der bestehenden Regelungswerke sind angesichts des Leids der Betroffenen unbedingt änderungsbedürftig. Das Recht scheint aktuell eher einer zusammengeflickten Reform zu gleichen, die zahlreiche Lücken aufweist. Um den vielfach mangelnden Opferzeuginnenschutz zu gewährleisten, bedarf es einer flächendeckenden Bearbeitung dieser Schwachstellen und damit die Umsetzung der völkerrechtlichen Vorgaben. Fehlender Schutz behindert den Zugang zu Recht.
Bei entsprechender Professionalisierung aber auch dem entsprechenden Willen ist es möglich, sowohl die Rechte des Beschuldigten (insbesondere die Unschuldsvermutung) als auch die Rechte der Betroffenen zu wahren. Es bedarf qualifizierter Kräfte, die sich mit Gewaltdelikten befassen.
Darüber hinaus darf dieser Diskurs nicht weiterhin nur von Frauen geführt werden. Der mangelnde Opferzeuginnenschutz in Deutschland ist geprägt von einem verzerrten Problembewusstsein. Gesellschaftlich werden Probleme häufig nur erkannt und anerkannt, wenn sie exklusiv sind. Gewalt an Frauen ist aber gerade ein flächendeckendes und breit verankertes Problem. Männer müssen beginnen, dies als ihr gesellschaftliches Problem anzusehen, um ein breites Problembewusstsein zu schaffen. Nur so kann der Perpetuierung der Stereotype tatsächlich entgegengetreten werden.