Menschen mit queeren Lebensweisen sind weltweit von Diskriminierungen betroffen. In einigen Ländern nimmt diese Diskriminierung die Qualität von Verfolgung an und veranlasst queere Menschen, ihre Herkunftsländer zu verlassen. Diese Personen haben völkerrechtlich und europarechtlich einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz in Deutschland. Dieser Anspruch wird in Deutschland vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) insbesondere anhand der Schilderungen der Schutzsuchenden im Rahmen der Anhörung geprüft. Da sich die sexuelle Orientierung einer Person nicht beweisen lässt, rücken für das BAMF in der Anhörung Fragen in den Mittelpunkt, von denen es sich erhofft, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragssteller*innen zu ihrer sexuellen Orientierung prüfen zu können. Fragen nach der (homo)sexuellen Orientierung betreffen einen höchst sensiblen und persönlichen Bereich, der in einer heteronormativen Gesellschaft zudem durchdrungen ist von wirkmächtigen Hierarchisierungen und Stereotypen. Fragen nach der sexuellen Orientierung und die Bewertung der Glaubhaftigkeit der entsprechenden Angaben bergen in besonderem Maße die Gefahr, bestehende Stereotype und hegemoniales Wissen über Homosexualität zu reproduzieren. Dieses Working Paper untersucht deshalb anhand der Analyse von 12 Anhörungsprotokollen, in welcher Weise das BAMF Antragsteller*innen in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung befragt und unterzieht die Ergebnisse einer rechtlichen Bewertung.
Stereotype in der Anhörung und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
Die Analyse der Anhörungsfragen hat gezeigt, dass eine Vielzahl der Fragen von stereotypen Vorstellungen in Bezug auf Homosexualität geprägt ist. Sie enthalten spezifische Erwartungen an den Lebensstil, das Verhalten, das Coming-Out und das Sexualleben von homosexuellen geflüchteten Menschen. Personen, die diesen Stereotypen nicht entsprechen können oder wollen, haben ein höheres Risiko kein Asyl zu erhalten. In diesen Anhörungsfragen wird Homosexualität essentialisiert. Sie beruhen auf der Idee eines homogenen Kollektivs homosexueller Menschen. Wiederholt enthalten die Fragen aber auch eine Negierung und Abwertung von nicht-westlichen queeren Lebensweisen. Hier zeigt sich eine eurozentristische und rassistische Dimension in den Anhörungsfragen.
Mit dem Ende des Sommersemesters 2020 ist der 11. Zyklus der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte erfolgreich beendet wurden. Auch in diesem Zyklus haben die Teilnehmer*innen herausragende Arbeiten verfasst, die wir in unserer Working Paper Reihe veröffentlichen wollen. Da die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie auf absehbare Zeit eine physische Veröffentlichung verhindern, haben wir uns dazu entschieden, die Working Paper dieses Jahr zunächst nur digital zu veröffentlichen. Alle zwei Wochen werden wir von nun an ein neues Working Paper, begleitet von einem kurzen Blog-Beitrag der Autor*innen, auf dem Grundundmenschenrechts-Blog veröffentlichen. Alle bis jetzt veröffentlichten Working Paper finden Sie hier.
Die selbstbestimmte Definition der eigenen sexuellen Orientierung ist Teil des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung, das sich unter anderem aus Art. 8 EMRK ergibt. Wenn eine staatliche Behörde die Angaben von Asylsuchenden aufgrund von heteronormativen und rassistischen Stereotypen anzweifelt oder negiert, wird dieses Recht verletzt. Wenn Personen, deren Homosexualität den „westlichen“ Bildern von Homosexualität entspricht, bessere Chancen im Asylverfahren haben, als Personen mit nicht-„westlichen“ queeren Lebensweisen, findet zudem eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung statt, die Personen mit nicht-„westlichen“ queeren Lebensweisen diskriminiert i.S.d. Art. 14 EMRK. Eine Prüfung von Asylanträgen anhand von Stereotypen widerspricht zudem der europarechtlichen Vorgabe aus Art. 4 III der Qualifikationsrichtline, Asylanträge „individuell“ zu prüfen. Denn eine Prüfung anhand von Stereotypen knüpft lediglich an den vermeintlich „[…] einfachen, anschaulichen, leicht einprägsamen, leicht zu erfassenden und weithin anerkannten Eigenschaften einer Person […]“ an (Stuart Hall 2004: S.143f.)
„Keep it in the clost?” – Das Diskretionserfordernis
Der Europäische Gerichtshof stellte bereits 2013 klar, dass von homosexuellen Asylsuchenden nicht erwartet werden könne, dass sie sich in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland diskret verhalten, um eine Verfolgung zu vermeiden. Der EuGH erteilte damit der sogenannten Diskretionsrechtsprechung eine Absage. Die Analyse der Anhörungen zeigte jedoch, dass sich das BAMF von dieser Rechtsprechung augenscheinlich wenig beeindruckt zeigt. In den analysierten Anhörungen aus den Jahren 2017 bis 2019 konnten nicht nur Fragen identifiziert werden, die die Möglichkeit von diskretem Verhalten zumindest implizierten, sondern in mindestens zwei Fällen wurde auch die Ablehnung des Asylantrags unter anderem mit Versatzstücken der überholten Diskretionsrechtsprechung begründet. Das BAMF verstößt hier gegen unmittelbar geltendes Europarecht, greift rechtswidrig in die sexuelle Selbstbestimmung der Antragsteller*innen ein und handelt entgegen international anerkannten Grundsätze, die sich zum Beispiel aus den Yogyakarta-Prinzipien und den Empfehlungen des UNHCR ergeben.
Bewegungsfreiheit für Alle! Und bis dahin: Achtung fundamentaler Menschenrechte
Solange wie die Bewegungsfreiheit von Menschen durch die Ideen von Nationalstaaten, Staatsangehörigkeiten und Grenzen weiter eingeschränkt wird und Menschen nicht die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, um sich vor Verfolgung zu schützen, ist es notwendig, innerhalb eines restriktiven Asylsystems auf die Achtung fundamentaler Menschenrechte zu pochen. Anhörungen, die heteronormative und rassistische Stereotype reproduzieren und weiterhin verlangen, dass queere Asylsuchende ihre sexuelle Orientierung im Herkunftsland verbergen, verstoßen gegen Europa- und Menschenrechte. Dieses Working Paper soll deshalb auch als Forderung an das BAMF verstanden werden, die bestehende Praxis entsprechend der europa- und menschenrechtlichen Anforderungen anzupassen.