Mit dem Urteil 21 Sa 1900/19 vom 17.08.2020 hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) dem Thema Live-In Pflege wieder neue Bedeutung gegeben. Live-In Pflege umfasst die Pflege und Betreuung durch Arbeiter*innen, die im selben Haushalt leben und arbeiten. Das LAG hat einer Live-In den Anspruch auf Nachzahlung von nicht vergüteten Arbeitsstunden zugesprochen – für täglich 21 Stunden geleisteter Arbeit. Das Urteil hat das Potenzial eine gesamte Branche auf den Kopf zu stellen.
Jahrelang wurde aufgrund einer rechtlichen Grauzone das Modell einer „24 Stunden-Pflege“ vermarktet, die offensichtlich die Arbeitsschutzrechte der Live-Ins verletzt. Das Urteil macht diesem Markt einen Strich durch die Rechnung. Mit der Feststellung „Bereitschaftszeit ist Arbeitszeit und muss voll vergütet werden“, wird der Grundstein des Urteils gelegt. Es geht jedoch noch weiter: Das Gericht stellt fest, dass die bulgarische Vermittlungsagentur als Arbeitgeberin die Arbeitsbedingungen so gestaltet hat, dass die klagende Live-In nicht anders konnte, als fast durchgängig zu arbeiten oder sich zur Arbeit bereitzuhalten. Unter diesen Umständen hätte sie tatsächlich keine Möglichkeit gehabt, die vertraglich festgelegte Arbeitszeit von 6 Stunden täglich nicht zu überschreiten. Es ist zu hoffen, dass der Klage der bulgarischen Live-In viele weitere folgen werden. Schließlich sind in Deutschland selbst nach vorsichtigen Schätzungen 300.000 Arbeiter*innen in der Live-In-Pflege, darunter vor allem Frauen aus Polen, unter ähnlich prekären Arbeitsbedingungen tätig. Sollten sich mehr Frauen dazu entschließen gegen diese rechtswidrigen Bedingungen zu klagen, könnte eine grundlegende Kehrtwende in der Branche folgen.
Vor diesem Hintergrund sind die Erkenntnisse des Working Papers No. 28 besonders interessant. Es beschäftigt sich mit der rechtlichen Beurteilung von polnischen Verträgen und der Durchsetzung von Arbeitsschutzrechten. Es legt die Besonderheiten und Probleme dieser Vertragsverhältnisse dar und stellt fest, wie Live-Ins ihren Rechtsschutz erhalten können.
Mit dem Ende des Sommersemesters 2020 ist der 11. Zyklus der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte erfolgreich beendet wurden. Auch in diesem Zyklus haben die Teilnehmer*innen herausragende Arbeiten verfasst, die wir in unserer Working Paper Reihe veröffentlichen wollen. Da die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie auf absehbare Zeit eine physische Veröffentlichung verhindern, haben wir uns dazu entschieden, die Working Paper dieses Jahr zunächst nur digital zu veröffentlichen. Alle zwei Wochen werden wir von nun an ein neues Working Paper, begleitet von einem kurzen Blog-Beitrag der Autor*innen, auf dem Grundundmenschenrechts-Blog veröffentlichen. Alle bis jetzt veröffentlichten Working Paper finden Sie hier.
Die „umowa zlecenia“ – Instrument einer unwürdigen Beschäftigungspraxis für Live-Ins aus Polen
Viele Live-Ins werden in Polen im Rahmen der „umowa zlecenia“ (wörtlich übersetzt: Vertrag zum Auftrag) beschäftigt. Die Besonderheit dieses Beschäftigungsverhältnisses, das auch Müllvertrag genannt wird, liegt in der Umgehung zahlreicher Arbeitsschutzvorschriften, wie dem Arbeitszeitgesetz, Bundesurlaubsgesetz, Mindestlohngesetz und einem lückenhaften Sozialschutz. Die polnischen Vermittlungsagenturen von Live-Ins wählen bewusst diese Vertragsform. Unter dem Deckmantel eines Auftrages nach polnischem Recht wird die Live-In zur Betreuung einer pflegebedürftigen Person nach Deutschland geschickt. In Deutschland unterliegen die Live-Ins dann meistens den Wünschen und Anforderungen der pflegebedürftigen Person, die sich neben der Betreuung auch auf die Führung des Haushalts bis hin zur Bereitschaft in den Nachtstunden erstreckt. Die vermeintliche tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden entpuppt sich schnell als tatsächlich 24-stündige Arbeitszeit. Das Working Paper zeigt auf, dass das Europarecht ‒ konkret die ROM-I Verordnung – ein Mittel bietet, dieser rechtswidrigen Praxis einen Riegel vorzuschieben und die deutschen Arbeitsschutzvorschriften, darunter besonders relevant das Mindestlohngesetz und das Arbeitsschutzgesetz, anzuwenden. Es wird außerdem dargestellt, warum es sich – anders als von den Agenturen propagiert – in der Regel nicht um eine rechtsgültige Entsendung handelt. Die Entsendung im Rahmen eines „Müllvertrages“ kann lediglich als Scheinentsendung bezeichnet werden. Für diese Möglichkeiten gilt es, die Beratungspraxis für Live-Ins zu sensibilisieren.
Die arbeitsrechtliche Bindungswirkung der A1-Bescheinigung
In einem zweiten Teil wirft das Working Paper einen Blick auf die sogenannte A1-Bescheinigung. Die A1-Bescheinigung dient dem Nachweis der Versicherungspflicht in einem anderen Herkunftsstaat, um EU-Arbeiter*innen bei einer kurzzeitigen Tätigkeit in einem anderen EU-Staat nicht mit einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren zu belasten. Inhaber*innen einer solchen A1-Bescheinigung bleiben in ihrem EU-Herkunftsstaat versichert. Was als bürokratisches Privileg erscheint, entpuppt sich für Live-Ins aus Polen in Deutschland als Wolf im Schafspelz: Vermittlungsagenturen belegen Live-Ins mit dieser Bescheinigung mit der Absicht, sie rechtsverbindlich als Selbstständige auszugeben. Würde die arbeitsrechtliche Bindungswirkung der A1-Bescheingiung von Gerichten in Deutschland akzeptiert, wären jegliche Arbeitsschutznormen für Live-Ins von Vornherein ausgeschlossen. Ob eine solche Bindungswirkung besteht, ist in der juristischen Literatur umstritten. Das Working Paper zeigt anhand einer Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf, dass gute Gründe dafür sprechen, dass der EuGH nicht beabsichtigte, Arbeitsgerichte in Deutschland an die Aussagen der A1-Bescheinigung zu ketten. Daran anknüpfend eröffnet das Working Paper neue Möglichkeiten, den EuGH zu interpretieren und gibt klare Argumente, die eine arbeitsrechtliche Bindungswirkung auch rechtsdogmatisch widerlegen können. Auch die fragmentierte Urteilslandschaft in Deutschland zur A1-Bescheinigung findet dabei Eingang. Dies soll gerade Berater*innen und Rechtsvertreter*innen von Live-Ins ermöglichen, in den individuellen Problemsituationen ein allumfassendes Bild der aktuellen Rechtslage zugrunde legen zu können.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Working Paper einen nachhaltigen Beitrag dazu leisten, dass Live-Ins in Deutschland unter menschenwürdigen Umständen beschäftigt werden.