Armutsunrecht – UN Sozialausschuss rügt Deutschland für die ungenügende Umsetzung sozialer Rechte

Recht haben, bedeutet für mittellose Menschen in der Bundesrepublik noch lange nicht, Recht zu bekommen. Zu diesem Ergebnis kommt der UN-Sozialausschuss in seinen im Oktober 2018 veröffentlichten abschließenden Bemerkungen. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) mahnte jüngst zu Veränderungen. Um dem Problem die Aufmerksamkeit zu verleihen, die es verdient, schlage ich den Neologismus des Armutsunrechts vor.

Soziale Rechte sucht man im Grundgesetz vergeblich – dennoch gibt es sie. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus den Grundsätzen der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20, Abs. 1 GG) das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (BVerfGE 125, 175-260). Rechtlich verbindlich sind wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Deutschland darüber hinaus seit 1976 durch den UN-Sozialpakt (ICESCR). Aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes müssen sie bei der Auslegung der Grundrechte und des einfachen Rechts berücksichtigt werden. Besonders relevant für Menschen, die in Armut leben, sind das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9 ICESCR), das Recht auf Arbeit (Art. 6 ICESCR) und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, wozu auch das Recht auf Wohnen gehört (Art. 11 ICESCR). Der Bericht des DIMR zeigt: Gerade in der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) werden diese Rechte tagtäglich verletzt.

Zahlenschieberei bei der Ermittlung des Existenzminimums

Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum laufend zu konkretisieren, ist die Pflicht des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm einen Gestaltungsspielraum bei der Ermittlung dieses Minimums zugesprochen und zuletzt dennoch deutlich Zweifel an den bisherigen Regelungen geäußert. „[D]erzeit noch verfassungsgemäß“ war die Einschätzung der Karlsruher Richter_innen im September 2014. Der Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt jedoch: Das Existenzminimum wird absichtlich klein gehalten. Der Maßstab für die Ermittlung des Regelsatzes sind die Ausgaben der unteren 15 Prozent der Haushalte. Das heißt: Die „in der statistischen Vergleichsgruppe festgestellten Ausgaben armer Haushalte sind selber schon Zeichen des Mangels“ (DIMR 2018: 14).

Verletzung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) beim Thema Wohnraum

Auch bei konkreten Bedürfnissen zeigen sich Mängel. Während die Wohnungsnot in Städten bereits Menschen mit mittleren Einkommen in die Verzweiflung treibt, wird sie für mittellose Menschen schnell zur Existenzfrage. Die Kosten für die Unterkunft von Sozialhilfeempfänger_innen werden nur dann komplett übernommen, wenn sie als „angemessen“ gelten. Aber die Mietobergrenzen hinken den schnell steigenden Marktpreisen meilenweit hinterher. Die Differenz muss von den Betroffenen selbst getragen werden. Weiter gekürzt werden die Mittel aus dem Regelsatz, wenn sie bei Umzügen mit Kautionen oder Genossenschaftsanteilen verrechnet werden. Früher „mussten die Mieter_innen diese Beiträge für Kautionen oder Genossenschaftsanteile erst dann an das Jobcenter zurückzahlen, wenn sie ausgezogen waren und das Geld wiederbekommen hatten“ (DIMR 2018: 20). Seit 2011 werden die Kosten durch ein Darlehen vom Jobcenter übernommen, das Darlehen muss jedoch monatlich mit einer Rate von 10 % des Regelsatzes zurückgezahlt werden. Einige Landessozialgerichte haben diese Aufrechnung bereits gekippt, da sie gegen die Ansprüche nach dem SGB II verstoßen.

Dem Gesetzgeber ist die Lücke zwischen den tatsächlichen und den übernommenen Mietkosten durchaus bewusst. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit belegt, dass bundesweit etwa 600 Millionen Euro tatsächlicher Kosten von den Jobcentern nicht anerkannt und daher nicht bezahlt werden. „Die hohe Zahl belegt, dass es sich um ein strukturelles Problem der Grundsicherung und nicht um Einzelfälle und individuelle Probleme handelt.“ (DIMR 2018: 20) Diese eklatante Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeigt, dass beim Thema Wohnraum faktisch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) verletzt wird.

Stillstand beim Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 ICESCR)

Kurz bevor der Bericht des DIMR veröffentlicht wurde, fand am 25. September 2018 in Genf die Prüfung des 6. Staatenberichts der Bundesregierung beim UN-Fachausschuss zum Sozialpakt statt. Nach dem 5. Staatenbericht 2011 hatte der Ausschuss der Bundesrepublik aufgetragen, „ein umfassendes Armutsbekämpfungsprogramm anzunehmen und umzusetzen“ (Empfehlung Nr. 24).  Ungerührt lehnte die Bundesregierung diese Forderung im aktuellen 6. Staatenbericht ab.  Die Empfehlung sei „nicht sachgerecht, da in Deutschland bereits ein umfassendes institutionelles Netz aus gesetzlichen Regelungen und individuellen Rechtsansprüchen, die sich an unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedarfssituationen orientieren, existiert.“ (Bundesregierung 2017: 49)

Dass das nicht den Tatsachen entspricht, macht der Vergleich mit dem Alternativbericht der zivilgesellschaftlichen Nationalen Armutskonferenz (nak) deutlich. Der Parallelbericht konstatiert: „Die Nationale Armutskonferenz beobachtet, dass solche Überlegungen in der politischen Strategie der Bundesregierung keine Rolle spielen. Stattdessen dominiert das sogenannte ‚Lohnabstandsgebot‘ die politische Diskussion, nach dem Sozialleistungen immer niedriger sein müssten als Erwerbseinkommen.“ (NAK 2018: 17) Die Armutsbekämpfung spiele auch im aktuellen Koalitionsvertrag keine Rolle und die Feststellung der Bundesregierung irritiere umso mehr, als sie bspw. im Armuts- und Reichtumsbericht selbst eine Analyse der fortschreitenden Armutsentwicklung und der sich daraus ergebenden notwendigen Maßnahmen biete. (vgl. ebd.)

Bei dieser Diskrepanz ist es kein Wunder, dass die Umsetzung des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 ICESCR) bisher zu wünschen übrig lässt. Und so kann es nicht überraschen, dass der UN-Sozialausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen, die am 16. Oktober 2018 in Genf veröffentlicht wurden, der Bundesregierung noch einmal umfangreiche Hausaufgaben aufgibt. Der Ausschuss kritisiert u.a., dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gäbe und die Mietkosten in der Grundsicherung nicht ausreichend Berücksichtigung fänden (Empfehlung Nr. 54), wodurch das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9 ICESCR) und das Recht auf angemessenen Lebensstandard (Art. 11 ICESCR) verletzt werden. Der Ausschuss fordert, das Existenzminimum anzuheben (Empfehlung Nr. 47), um dem Recht auf Arbeit (Art. 6 ICESCR) Genüge zu leisten.

Zum Abschluss bedient sich der Ausschuss eines seltenen Mittels und verlangt von der Bundesrepublik zum Recht auf Wohnen (Art. 11 Abs. 1 ICESCR) und zur Kinderarmut einen „dringlichen Zwischenbericht“ binnen 24 Monaten (Empfehlung Nr. 66). Spätestens hier zeigt sich, wie ernst der UN-Sozialausschuss die Lage nimmt.

Fehlende Öffentlichkeit und politischer Wille: Armutsunrecht statt bloß Armutsstress

Eine hohe Hürde für eine bessere Umsetzung der sozialen Menschenrechte in Deutschland scheinen das fehlende öffentliche Interesse und der mangelnde politische Wille zu sein. Die Zeitung Neues Deutschland stellt fest, dass das Urteil des UN-Sozialausschuss den meisten Medien nicht mal eine Erwähnung wert war. Noch schlimmer steht es um die Öffentlichkeit für den Bericht des DIMR: Dieser hat medial überhaupt keine Beachtung gefunden und der Tweet des DIMR zur Veröffentlichung wurde genau viermal retweetet.

In seinem Bericht greift das DIMR den von Wohlfahrtsverbänden genutzten Begriff des „Armutsstresses“ auf. Er bezeichnet die psychischen und körperlichen Belastungen, die entstehen, wenn man ständig mit Eingliederungsanforderungen und Sanktionsdrohungen konfrontiert ist. Der Bericht des DIMR zeigt, dass dies als Folge zwar Stress produziert, aber Armut eben auch in einem wechselseitigen Verhältnis mit Unrecht steht: Armut hindert Menschen an der Wahrnehmung ihrer Rechte und das Unrecht der nicht ausreichenden Umsetzung der Grundsicherung produziert selbst neue Armut.

Um diesem Thema im Stimmengewirr der politischen Interessen mehr Aufmerksamkeit zu verleihen, schlage ich den Neologismus des Armutsunrechts vor. Vielleicht kann es mit dem Begriff Armutsunrecht gelingen, das Problem prägnanter zu benennen und dafür zu sorgen, die Rechte mittelloser Menschen in der Grundsicherung besser umzusetzen.

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