Der KiK-Fall: Eine ganze Industrie schaut am 10. Januar auf das LG Dortmund

Der KiK-Fall, der heute vor dem LG Dortmund verhandelt wird (AZ O 95/15), könnte eine ganze Industrie umkrempeln. Wahrscheinlich wird das nicht passieren, da die Ansprüche verjährt sein könnten. Die Argumentation der Kläger_innen könnte aber überzeugen. Eins ihrer Ziele haben die Kläger_innen schon erreicht – eine breite gesellschaftliche Debatte.

Neben den Verfahren gegen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Verfehlung der Klimaziele, den Verfahren vor den Verwaltungsgerichten zu den Dieselfahrverboten durch die Deutsche Umwelthilfe und dem Verfahren eines peruanischen Hausbesitzers gegen RWE wegen den drohenden Beschädigungen durch die Klimafolgen, ist das KiK-Verfahren das derzeit relevanteste Strategic Litigation-Verfahren in Deutschland. Dabei soll der individuelle Schadensersatzanspruch geklärt werden und für alle Betroffenen ein Schuldeingeständnis vom deutschen Textildiscounter erreicht werden. Zugleich geht es darum, weiterhin die öffentliche Debatte darüber zu führen, ob es eine Verantwortung von Unternehmen für die Verletzung von Menschenrechten in der Lieferkette gibt.

Der Sachverhalt

Im Fall KiK klagen drei Hinterbliebene und ein Verletzter eines Fabrikbrandes der Firma Ali Enterprises in Karachi, Pakistan, im September 2012. Bei dem Brand kamen 259 Menschen ums Leben, 30 weitere wurden teils schwer verletzt. KiK hatte zum Zeitpunkt des Brandes nach eigenen Angaben 75 % der Waren der Firma Ali Enterprises abgenommen. Der Brand hatte nach Angaben der Kläger_innen u.a. so schwerwiegende Folgen, weil die Alarmanlage nicht funktionierte, keine ausreichenden Feuerlöscher vorhanden waren, Notausgänge verriegelt oder hinter Türen in oberen Stockwerken keine Treppen angebracht waren bzw. sich diese nicht öffnen ließen. Fenster waren wohl verbarrikadiert und entlang den Fluchtwegen war brennbares Material gelagert worden. Wenige Wochen vor dem Brand hatte das von KiK beauftragte Zertifizierungsunternehmen RINA noch festgestellt, dass alle Sicherheitsbestimmungen zum Brandschutz eingehalten würden.

Die Analyse des Forensic Architecture Instituts an der Goldsmith University London zeigt, dass die Einhaltung dieser (auch vom pakistanischen Recht vorgeschriebenen) Standards wahrscheinlich ausgereicht hätte, um den meisten Opfern das Leben zu retten. Die Analysen des Forensic Architecture Insituts wurden auch im NSU-Prozess als Beweismittel  angeführt. KiK meint, dass die Brandschutzvorrichtungen ausreichend gewesen seien, allerdings sei das Feuer durch einen gezielten Brandanschlag verursacht worden. Wegen des Brandanschlags sind in Pakistan mehrere Verdächtige angeklagt. Die Kläger_innen meinen hingegen, dass die Brandschutzvorrichtungen unabhängig davon, ob es ein Brandanschlag war, nicht ausreichend waren und diese Frage deshalb nicht entscheidend sei.

Die Klage wird vom LG Dortmund nach pakistanischem Recht beurteilt.

Die vier Kläger_innen, die alle der Ali Enterprises Fire Affectees Association angehören (und im nicht-rechtlichen Sinne auch für ihre Kolleg_innen klagen) werden bei der Klage vom European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR), medico international sowie der Friedrich Ebert Stiftung unterstützt. Sie fordern jeweils 30.000 € Schmerzensgeld.

Der Fall wird wegen Art. 4 Abs. 1 der Rom-II-Verordnung nach pakistanischem Recht entschieden, da bei Schadensersatzklagen aus unerlaubter Handlung das Recht Anwendung findet, was am Ort der Verletzung (Erfolgsort) gilt. Das LG Dortmund ist zuständig für Klagen gegen KiK, da der Geschäftssitz des Unternehmens in Bönen im Gerichtsbezirk des LG liegt. Im August 2016 gewährte das Gericht den Kläger_innen Prozesskostenhilfe und holte danach ein Gutachten zum pakistanischen Recht ein.

Wenn das LG Dortmund zu Gunsten der Kläger_innen entscheiden sollte, hätte dies weitreichende Konsequenzen. Damit wäre de facto eine Pflicht zur effektiven Kontrolle von Brandschutzvorrichtungen für europäische Unternehmen etabliert – zumindest wenn in den Produktionsländern ein dem englischen Recht ähnliches Common Law wie in Pakistan angewandt wird (Beispiele hierfür wären Bangladesch und Indien). Wegen der Anwendung der Rom-II-Verordnung könnten Kläger_innen in ganz Europa in Zukunft auf diesen Fall verweisen. Die Gewissheit, dass man nur ein rechtlich selbstständiges Unternehmen beauftragen muss, um bei der Haftung „fein raus“ zu sein, wäre damit zu Ende.

Alles verjährt – trotz Vereinbarung auf die Verjährung zu verzichten?

Das pakistanische Recht sieht vor, dass Klagen wegen eines Todesfalls nach einem Jahr und Klagen wegen Körperverletzung nach zwei Jahren verjähren. Die Klage wurde im März 2015, also  rund zweieinhalb Jahre nach dem Unglück, eingereicht. Allerdings meinen die Kläger_innen, dass die Verjährung durch die Verhandlungen, die von 2013 bis 2015 geführt wurden, gehemmt sei. Außerdem hatten sich KiK und die Kläger_innen 2015 im Rahmen der Verhandlungen geeinigt, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Nun meint KiK, dass die Vereinbarung nicht gelte, weil das pakistanische Recht eine solche Abrede nicht erlaube. Die Kläger_innen meinen aber, dass sich die Parteien bei der Vereinbarung zur Verjährung konkludent auf deutsches Recht geeinigt haben müssten – sonst hätten sie ja die (dann unwirksame) Verabredung nicht treffen wollen. Wenn sich die Parteien bei der Vereinbarung zur Verjährung auf deutsches Recht geeinigt haben, wäre der Anspruch, wenn er besteht, unzweifelhaft nicht verjährt. Das Gericht kann also in beide Richtungen entscheiden.

Aber war KiK nicht nur Besteller?

Wenn es zu einer Verhandlung über die materiellen Fragen kommen sollte, wird besonderes Augenmerk darauf liegen, dass KiK zunächst Käufer der Waren aus der Fabrik Ali Enterprises war und nicht selbst diese Fabrik betrieben hat. Eine Sprecherin von KiK meinte zu den Vorwürfen, wenn man ein Brötchen bei einem Bäcker kaufe, sei man nicht dafür verantwortlich, wenn am nächsten Tag die Bäckerei abbrenne. Die Kläger_innen meinen jedoch, dass das Beispiel falsch gewählt sei: Wenn man tatsächlich die Bäckerei kontrolliere, 75 – 100% der Waren abnehme und die Bäckerei faktisch wie eine eigene Produktionsstätte nutze, dann sei man sehr wohl verantwortlich.

Wie steht es um die rechtlichen Argumente?

Das pakistanische Recht beruht auf dem englischen Common Law System und das folgt einem Präzedenzfallsystem. Dabei werden auch Entscheidungen von englischen Obergerichten in pakistanischen Gerichten als bindende Präzedenzfälle angesehen. Die Kläger_innen bringen drei Argumentationsstränge in ihrer Klageschrift vor:

1. Haftung für Versäumnisse von Ali Enterprises

Ali Enterprises hat gegen pakistanische Feuerschutzvorschriften verstoßen. Fraglich ist lediglich, ob KiK dafür einstehen muss. Dafür bringen die Kläger_innen vor, dass es eine Haftung für Verschulden des Verrichtungsgehilfen dann gibt, wenn dieser in einer tatsächlichen Betrachtung sich als unselbstständiger Arbeitnehmer darstellt. Diese Haftung ähnelt grundsätzlich der Haftung nach § 831 BGB im deutschen Recht. Allerdings sieht § 831 BGB eine Haftung für Subunternehmer_innen nur dann vor, wenn diese tatsächlich unselbstständig handelten. Die sogenannte Vicarious Liability (auf Deutsch in etwa: Haftung für Verrichtungsgehilf_innen) setzt in dieser Konstellation voraus, dass, erstens, der Verrichtungsgehilfe eine unerlaubte Handlung begangen hat, zweitens, das Verhältnis von Auftraggeber und Verrichtungsgehilfe einem Arbeitsverhältnis gleicht und dass, drittens, die Verletzung innerhalb des Anwendungsbereichs des Quasi-Arbeitsverhältnisses passiert. Hierbei ist vor allem die Frage, ob das Verhältnis von KiK zu Ali Enterprises tatsächlich einem Arbeitsverhältnis glich, entscheidend.

Zwei Punkte sind dabei wichtig: KiK hat in den letzten fünf Jahren mehr als 75 % der Waren abgenommen. Da bei Verfahren in Pakistan Zeug_innenen ausgesagt haben, die KiK-Labels seien die einzigen Labels gewesen, die verarbeitet wurden und es keinen Beweis für weitere Kund_innen gibt, gehen die Kläger_innen davon aus, dass KiK 100 % der Waren abgenommen hat. Zudem musste Ali Enterprises die von KiK auferlegten Standards in Bezug auf die Herstellung, die Sicherheitsstandards, den gesamten Code of Conduct von KiK usw. einhalten. Damit war Ali Enterprises eine von KiK abhängige Produktionsstätte.

Außerdem kann auch nach Cassidy v. Minisiter of Health [Court of Appeal [1951] 2 KB 343] und Fauji v Sindh Labour [Supreme Court of Pakistan CA: 83-84/06] in den Fällen eine Haftung für das Verhalten eines Dritten angenommen werden, in denen eine völlige Abhängigkeit zwischen Auftragnehmer_in und Auftraggeber_in gegeben ist. Dabei ist die rechtliche Ausgestaltung der Beziehung für den High Court of Pakistan in Fauji v Sindh Labour ohne Belang gewesen. Es kam nur auf die tatsächlichen Verhältnisse an. In diesem Punkt geht das britische Recht in Cassidy v. Minister of Health beziehungsweise das pakistanische Recht in Fauji v Sindh Labour weit über das deutsche Recht hinaus.

2. Haftung für eigenes Unterlassen

Im pakistanischen (bzw. britischen) Tort Law gibt es, wie im deutschen Recht der unerlaubten Handlungen, eine Haftung für Unterlassen. Dafür muss zunächst eine Sorgfaltspflicht (Duty of Care) bestehen, diese verletzt sein und die Verletzung kausal für den Schaden sein. Wenn eine Sorgfaltspflicht besteht, ist diese durch das nicht erfolgte Einwirken von KiK auf Ali Enterprises bezüglich der Brandschutzvorrichtungen verletzt.

Die Sorgfaltspflicht ergibt sich anhand eines Drei-Stufen-Tests, der zunächst eine Nähebeziehung (proximity) zwischen Kläger_in und Beklagtem_r voraussetzt, die Auferlegung einer solchen Sorgfaltspflicht muss fair, gerecht und angemessen (fair, just and reasonable) sein und die Verletzung muss vorhersehbar zum eingeklagten Schaden geführt haben. Im konkreten Falle geht es vor allem um die Nähebeziehung.

Ein Gutachten der University of Essex stellt vor allem drei Argumente für eine Nähebeziehung heraus. Erstens lag für KiK unmittelbare Nähe zu den Menschen vor, die die Bekleidung für Ali Enterprises und somit für KiK produzierten, weil KiK die Produzent_innen in den Verträgen verpflichtete, den Code of Conduct (CoC) von KiK einzuhalten. Dieser verlangte von den Zulieferer_innen, für sichere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Zugleich beauftragte KiK die italienische Zertifizierungsfirma RINA die Einhaltung des CoC zu überwachen. Wenn eine Verletzung des CoC festgestellt wird, kann KiK laut den Vereinbarungen die Zusammenarbeit mit dem_r Zulieferer_in beenden. Somit habe KiK auch eine Verpflichtung zur Überwachung der Standards übernommen.

Zweitens könnte das überlegene Wissen von KiK gegenüber Ali Enterprises zu einer Nähebeziehung zu den Mitarbeiter_innen führen. KiK habe durch Besuche der eigenen Mitarbeiter_innen und die Besuche des Zertifizierungsunternehmens RINA von den Gefahren gewusst, die sich durch die unzureichenden Feuerschutzmaßnahmen ergeben könnten. KiK habe als Unternehmen, was mit vielen Hunderten Fabriken, vor allem in Asien, zusammenarbeite, besondere Kenntnisse über Gefahren in Bekleidungsfabriken. Außerdem müsse sich KiK auch die besonderen Kenntnisse des Zertifizierungsunternehmens, das sich in diesem Feld spezialisiert hatte, zurechnen lassen. Somit habe KiK weit überlegenes Wissen gegenüber Ali Enterprises gehabt.

Drittens argumentiert das Gutachten, dass KiK faktische Kontrolle über die Firma ausgeübt habe und sich daraus eine Nähebeziehung ergäbe. Wie gezeigt, wurden mindestens 75 % der hergestellten Waren von KiK abgenommen. Somit stehe Ali Enterprises an der Schwelle zu einer „Scheinselbstständigkeit“. Daraus ergäbe sich für KiK die Möglichkeit, zu jeder Zeit die Einhaltung des Code of Conducts einzufordern.

Wenn ein Gericht danach eine Sorgfaltspflicht begründet, sind die weiteren Voraussetzungen wohl erfüllt. Wenn eine Nähebeziehung etabliert ist, wurde in vergleichbaren Fällen daraus auch abgeleitet, dass es dann fair, gerecht und angemessen sei, eine Sorgfaltspflicht anzuerkennen.

3. Haftung aus Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter

Die Kläger_innen argumentieren in der Klageschrift alternativ, dass in dem Code of Conduct ein Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter (VSD) liege. Diese Konstellation ist im pakistanischen Recht anerkannt und eine Klage aus VSD wird von den meisten Stimmen im Schrifttum wegen seiner Zwitterstellung zwischen Vertragsrecht und Recht der unerlaubten Handlungen zum Tort Law i.S.d. Rom-II-Verordnung gezählt. So wäre pakistanisches Recht auch für diese Frage anwendbar. Ein Anspruch ist nach pakistanischem Recht in der Konstellation des VSD dann gegeben, wenn ein_e Dritte_r von einem Vertrag zwischen zwei Parteien profitieren soll, die dritte Partei in dem Vertrag benannt ist und wenn die Parteien den Vertrag nicht so geschlossen haben, dass eindeutig erkennbar ist, dass der_die Dritte die aus der Vereinbarung zustehenden Rechte nicht geltend machen können soll. Hier sehen die Kläger_innen in dem rechtlich verbindlich formulierten Code of Conduct, der Bestandteil der Verabredung zwischen KiK und Ali Enterprises war, eben genau das: Einen Vertrag, der geschlossen wurde, um die Näher_innen in den Fabriken der Zulieferer_innenbetriebe zu schützen. Aus der Formulierung desselben lässt sich nicht erkennen, dass darin lediglich eine rechtlich unverbindliche Absichtserklärung liegen soll.

Was von der Klage bleibt

Unabhängig davon, wie der Fall ausgeht, hatte sich KiK im September 2016 – kurz nach der ersten Äußerung (und der Gewährung von Prozesskostenhilfe) des LG Dortmund– dazu bereit erklärt, 5,15 Millionen Dollar an die Opfer und Hinterbliebenen zu zahlen. Damit ist für längere Zeit der Einkommensverlust (loss of income) der Geschädigten und Hinterbliebenen ausgeglichen. Der Druck durch das Verfahren in Deutschland habe dabei sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, meint das ECCHR. Allerdings erklärte KiK ausdrücklich, dass darin keine Entschädigung für die erlittenen Schmerzen enthalten sei. Unter anderem deshalb entschieden die Mitglieder der Ali Enterprises Fire Affectee Association, die Klage weiter zu verfolgen – nun nur noch auf Schmerzensgeld. Mit den unzähligen Artikeln, die zu diesem Verfahren geschrieben wurden, haben die Kläger_innen jetzt auch eine breite gesellschaftliche Debatte zur Verantwortung von KiK in Deutschland angestoßen.

Wie auch immer das LG Dortmund heute entscheidet: Es bleibt festzuhalten, dass die Argumentation der Kläger_innen rechtlich auf soliden Füßen steht. Die Zeiten wandeln sich und somit auch die Rechtsprechung. Die im britischen Tort Law erkennbare Tendenz zu einer stärkeren Verantwortung von Unternehmen wird sich langfristig durchsetzen. Eine Entscheidung zu Gunsten der Kläger_innen wäre für die Textilindustrie ein bedeutender Fortschritt beim Schutz von Menschenrechten in internationalen Lieferketten. Und die Kläger_innen wären ihrer Hauptforderung einen Schritt näher: Dass ein solches Unglück nie wieder passiert. Sie hätten dann die europäischen Unternehmen in die Pflicht genommen, die bisher von den unsicheren Arbeitsbedingungen profitieren.

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