Normalerweise ist der 1. Mai ein weltweit traditioneller Tag des demokratischen Protests. Doch 101 Jahre nach seiner erstmaligen Einführung als gesetzlicher Feiertag in Deutschland kommt dieser Tag des zivilen Aufbegehrens erstmals seit Gründung der BRD (jedenfalls in seiner urdemokratischsten Form) zum Erliegen. Der Stillstand auf den Straßen ist dabei nicht mit mangelnden politischen Anliegen der Bevölkerung zu begründen (der Grad an zivilgesellschaftlicher Aktivität dürfte in den letzten Jahren eher gewachsen sein). Er wird vom Staat selbst verordnet und unzulässig umgesetzt. Der Grund: Der Schutz der Gesundheit der allgemeinen Bevölkerung aufgrund der Corona-Pandemie.
Was machen die Gerichte da?
Die Ausnahmesituation, die momentan auf der ganzen Welt herrscht, hat die umfassendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der BRD mit sich gebracht. Unsere Freiheitsrechte sind durch die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Gottesdienst- und Versammlungsverbote und Ladenschließungen zugunsten der Gesundheit und des Lebens vieler Menschen eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dies in einer Reihe jüngster Eilbeschlüsse bestätigt, indem es den staatlichen Gesundheits- und Lebensschutz temporär höher gewichtet als die Freiheit der*s Einzelnen. In den letzten Tagen und Wochen hat die Rechtsprechung der Fachgerichte zur Versammlungsfreiheit jedoch ein derart restriktives Bild abgegeben (vgl. z.B. Beschlüsse aus Dresden, Hamburg, Hannover, Berlin, Neustadt), dass sich das BVerfG nun doch veranlasst sah, auf grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien hinzuweisen und bezüglich der Versammlungsfreiheit genaues Augenmaß der Behörden und Fachgerichte einzufordern (hier und hier). Das war angesichts der fundamentalen Bedeutung der Versammlungsfreiheit für unsere Demokratie überfällig.
Die rechtsstaatliche Abwägung erübrigt sich auch nicht in der Krise
In seiner Brokdorf-Entscheidung von 1985 hat das BVerfG die überragende Bedeutung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Grundgesetz) deutlich gemacht: Das Recht aller Bürger*innen, sich frei zu versammeln und aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, zählt zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) formuliert es so: „In der Versammlungsfreiheit manifestiert sich unsere Grundentscheidung für einen demokratischen Staat.“
Gerade verglichen mit der allgemeinen Meinungsfreiheit, die als individuelle Meinungsäußerung unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit ist und als eines der vornehmsten Menschenrechte in einer freiheitlichen und demokratischen Staatsordnung gilt, ist die kollektive, physische Meinungsäußerung der Versammlung nichts Anderes (BVerfG-Brokdorf, Rn. 63). Insbesondere für diejenigen Teile der Zivilgesellschaft, die gesellschaftlich unterrepräsentiert sind, ist mangels institutioneller und wirtschaftlicher Alternativen der Protest auf der Straße neben der Abgabe des Stimmzettels der einzige Weg der politischen Einflussnahme (vgl. hier).
In Zeiten einer globalen Pandemie gelten zweifelsohne besondere Umstände, die die Abwägung der Versammlungsfreiheit mit anderen wichtigen Grundrechten wie dem Leben und der Gesundheit Vieler beeinflussen können.
Jedoch ist bei jeder Ausnahmesituation auch die Frage mit zu denken, wieviel „Ausnahmedenken“ oder „Ausnahmeaktivität“ in einem demokratischen Rechtsstaat zulässig sein kann (vgl. auch hier). Zwei zentrale Grundsätze sind dabei die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Wesentlichkeit. Auch – oder gerade – zwei elementare Grundrechte wie das Leben und die Versammlungsfreiheit müssen im Wege eines schonenden Ausgleichs miteinander abgewogen und in ein Verhältnis gebracht werden, in dem möglichst viel von beiden gewährleistet bleibt. Eine Abwägung dieser Rechtsgüter erübrigt sich auch in einer gesundheitlichen Krisensituation nicht, sonst könnte man den demokratischen Rechtsstaat gleich an der Tür des RKI abgeben.
Grundrechtseingriffe wie Versammlungsverbote, die aufgrund der jeweiligen Kontaktbeschränkungen der Länder faktisch herrschen, sind außerdem derart wesentlich, dass sie grundsätzlich vom demokratisch legitimierten (Landes-)Parlament selbst getroffen werden müssen. Die Exekutive hat hierfür nicht die nötige Legitimation. Dieser zweite rechtsstaatliche Grundsatz dürfte durch die zahlreichen Verordnungen der Länderregierungen nicht gewahrt sein. Die Rechtsgrundlage des § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ist viel zu allgemein, um schwere Eingriffe in fundamentale Grundrechte an die Exekutive weiter delegieren zu können (dazu auch hier).
Lose Ansammlungen Vieler ja, zweckgerichtete Versammlungen Einzelner nein?
Letztlich gilt auch während einer Pandemie der Grundsatz, dass ein generelles Versammlungsverbot immer letztes Mittel bleiben muss, um andere Rechtsgüter von wichtiger Bedeutung zu schützen. Vorher sind Auflagen und Beschränkungen, unter deren Einhaltung ein Mindestmaß an Versammlung noch gewährleistet werden kann, als mildere Mittel zu prüfen.
Zentraler Anknüpfungspunkt für solche Auflagen, um ein Infektionsrisiko bei Versammlungen durch Schutzmaßnahmen zu minimieren, dürften gerade die Empfehlungen der Virolog*innen sein, die auch für das Treffen in Parks, zur sportlichen Betätigung, im Nahverkehr, in Großraumbüros und beim Einkaufen gelten. Die Sicherstellung von Abständen während des Protests, das Tragen von Gesichtsmasken und die Begrenzung von Teilnehmer*innenzahlen sowie der Kontakt der Demonstrierenden vor und nach der Versammlung sollten auch für Versammlungen eine geeignete Indizwirkung haben, dass der Schutz der Gesundheit angemessen berücksichtigt wird.
Dass Versammlungen, die auf zwei Personen begrenzt sind (Neustadt), Sicherheitsabstände von 5 oder gar 10 Metern sicherstellen (Gießen), auf das Verteilen von Flyern und öffentliche Ankündigungen verzichten (Hamburg), zum Tragen von Gesichtsmasken verpflichten (alle) oder gar die physische Präsenz nur in Form von Schuhpaaren (Berlin) deutlich machen, dennoch verboten worden sind, wird einer verfassungskonformen Abwägung nicht gerecht. Auch das BVerfG hat mittlerweile nach anfänglicher Zurückhaltung die Beachtung solcher Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte bei Versammlungen angemahnt (Beschlüsse 1 BvR 828/20 und 1 BvQ 37/20).
Begründungen der Behörden und Gerichte, die solche Versammlungen von vornherein als nicht wirksam erachten bzw. ins Netz oder gar auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen, verkennen zentrale rechtsstaatliche und versammlungsrechtliche Grundsätze. Die physische Sichtbarkeit ist Wesensmerkmal der Versammlung, das zeitliche und politische Moment für die Wirksamkeit geradezu essentiell und deren Bewertung nicht Sache der Gerichte oder Politik, sondern allein der Gesellschaft. Gerade in Zeiten von staatlicher Ausnahmeaktivität, durch die der politische Aushandlungsprozess und die gesellschaftliche Debatte stark eingeschränkt sind, ist die Möglichkeit des physischen Protests im öffentlichen Raum von hervorzuhebender Bedeutung. Neue Protestformen, die überwiegend im Netz stattfinden, sind zwar zu befürworten, stellen aber keine Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG dar. Auf sie zu verweisen wäre bloß ein Verweis auf Meinungsäußerungen nach Art. 5 GG. Eine derartige Verkleinerung/Verschiebung des Schutzbereichs ist aber verfassungsrechtlich nicht zulässig.
Schutz, nicht Bekämpfung von Versammlungen als staatliche Aufgabe
Stattdessen trifft den Staat ein Kooperationsgebot, welches sich direkt aus Art. 8 GG ableiten lässt und die Behörden zumindest zum Versuch einer einvernehmlichen Lösungsfindung mit den Veranstalter*innen einer Versammlung verpflichtet. Der demokratische Staat muss den ungestörten Ablauf einer Versammlung bestmöglich gewährleisten, eine solche Pflicht trifft nicht die Versammlungsleiter*innen allein. Es ist nicht ersichtlich, warum bei grundrechtsgewährleistenden Maßnahmen die Einhaltung der infektionsschützenden Auflagen nicht durch den Staat durchgesetzt werden kann, bei grundrechtseingreifenden dagegen schon.