Wenn im politischen, medialen oder rechtlichen Kontext über den NSU-Komplex gesprochen wird, rückt das Hauptmotiv der Taten meist in den Hintergrund: der Rassismus. Doch nicht nur im Hinblick auf den NSU wird Rassismus erstaunlich wenig in der deutschen Öffentlichkeit thematisiert.
Gerade dies stand im Vordergrund des zweiten Panels der Tagung „Blinde Flecken – Interdisziplinäre Perspektiven auf den NSU-Komplex“ am 11.12.2015, welche von der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, der Evangelischen Hochschule Berlin und der Alice Salomon Hochschule Berlin ausgerichtet wurde.
Was hat der NSU mit Rassismus zu tun?
Wie wenig Zusammenhänge zwischen dem NSU und dem Phänomen des Rassismus in den deutschen Medien dargestellt werden, zeigte Referentin Prof. Dr. Manuela Bojadzijev, Leuphana Universität Lüneburg, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, anhand der Ergebnisse ihrer Medienanalyse zum NSU-Komplex auf.
Beginnend mit dem Begriff „Dönermorde“. Das Wort, das später zum „Unwort des Jahres“ erklärt wurde, spiegelt die erste Reaktion der deutschen Massenmedien auf die Mordserie an hauptsächlich türkischstämmigen Deutschen wieder. Laut Frau Bojadzijev gibt es viele Anhaltspunkte dafür, dass in der deutschen Gesellschaft ein begrenztes Verständnis von Rassismus vorherrscht. Außerdem berichtete sie als Ergebnis ihrer Analyse unter anderem, dass Rassismus nicht als soziales Phänomen und gesamtgesellschaftliches Problem anerkannt ist. Was hat der NSU mit Rassismus zu tun? Nicht nur die Tätermotive gehen auf rassistische Kategorisierung der Mordopfer zurück, sondern auch die polizeilichen Ermittlungen zu den zehn Morden, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen des NSU lassen unschwer auf institutionellen Rassismus rückschließen.
Im Hintergrund der Berichterstattung stehen auch oft diejenigen, für die die Morde des NSU den größten Schmerz boten – die Angehörigen der Ermordeten. Ayse Gülec von der Kasseler „Initiative 6. April“ nannte dies das migrantisch situierte Wissen der NSU-Betroffenen und erklärte anhand von Bildern die Strategien der Angehörigen, um Gehör zu finden. Diese mussten ihren Schmerz und ihr Wissen kollektiv auf die Straße tragen, so Gülec, damit ihre Forderung nach Aufklärung der Morde gehört wurden. Dies zeigte auch die Kampagne „Kein zehntes Opfer“, die von Angehörigen organisiert wurde.
Doch die Trauerzüge blieben wenig beachtet. Vielmehr wurden die Akzente der Berichterstattung auf Mitglieder des Verfassungsschutzes oder Menschen aus der rechtsradikalen Szene gesetzt. Frau Gülec nannte dies das „silencing“ der Betroffenen. Das bedeutet das „Leisedrehen“ von Betroffenen, sobald sie über strukturellen oder institutionellen Rassismus sprachen. Doch auch das vermeintliche Schweigen der Angehörigen kann gebrochen werden. Frau Gülec betonte, dass durch den Zusammenschluss von Initiativen und Gemeinden viel erreicht werden könne und auch bereits erreicht wurde. Damit beginne der Versuch der Etablierung einer anderen Narration in den deutschen Medien.
Die türkische Community und der NSU
Dass es allgemein viele Übergriffe auf Deutsch-Türk_innen in der Bundesrepublik gab und gibt schilderte Özge Pinar Sarp von der Initiative NSU-Watch. Anschläge wie der Brandanschlag in Solingen 1993 seien Teil des kollektiven Gedächtnisses der deutsch-türkischen Gemeinschaft, in welches sich nun auch die NSU-Morde einreihen würden. Dabei betonte sie, dass es sich hier nicht nur um eine „Täter-Opfer-Konstruktion“ handele, sondern dass die Deutsch-Türk_innen eine gefestigte Gemeinschaft darstellen würden, die ein gemeinsames und diskriminierungsfreies Leben in der Bundesrepublik forderten.
Die Vielfältigkeit rassistischer „Kategorien“
Rassistische Ideologien basieren immer auf konstruierten „Kategorien“. Diese Kategorien werden von der Gesellschaft gebildet, um diskriminierendes Handeln besser greifbar zu machen. Dazu gehören zum Beispiel die sexuelle Orientierung, die ethnische Herkunft, etc., welche sich in den Antidiskriminierungsgesetzen wiederspiegeln (vgl. § 19 Abs. 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). Vermehrt wird zudem rassistisches Verhalten nur als solches eingestuft, wenn die_der Handelnde eine Intention zu rassistischer Diskriminierung hatte. Eine weitere Herausforderung in der Antidiskriminierungsarbeit schilderte Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Er trug vor, dass Betroffene von rassistischen Übergriffen oftmals lange damit beschäftigt seien, überhaupt nachzuweisen, inwiefern es sich in dem jeweiligen Fall um Rassismus gehandelt hätte. Am häufigsten stelle sich dies in Fällen des sog. „racial profiling“ (das bedeutet, dass Menschen aufgrund von phänotypischen Merkmalen, wie zum Beispiel der Hautfarbe, von Beamten verdächtigt werden, in illegale Handlungen verstrickt zu sein) dar. Dies gehöre zum Alltag schwarzer Menschen in Deutschland, vor allem in öffentlichen Einrichtungen wie Flughäfen und Bahnhöfen. Dass Gerichte eine Feststellung diskriminierenden Verhaltens möglichst vermeiden würden, sei ebenso nichts Neues, berichtete Herr Della. Er betonte außerdem, dass im Fall des NSU-Komplexes oft von „Pannen“ der deutschen staatlichen Institutionen gesprochen würde. Das sei aber nicht der Fall, sondern diesen sogenannten Pannen lägen rassistische Strukturen zugrunde. Auch er geht darauf ein, dass Stimmen von Betroffenen viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren würden.
Ein allgemeines gesellschaftliches Verständnis von Rassismus etablieren
Das zweite Panel der Tagung „Blinde Flecken – Interdisziplinäre Perspektiven auf den NSU-Komplex“ machte deutlich: Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Rassistische Übergriffe, Verhaltensweisen und Beleidigungen betreffen nicht nur die Verletzten, bestimmte staatliche Stellen oder die Angreifer, die nicht nur aus der rechten Szene kommen. Vielmehr müssen sich Staat und Gesellschaft insgesamt als Angegriffene von rassistischem Verhalten jeglicher Art verstehen. Das kann nur erreicht werden, wenn der Rassismus-Diskurs gefördert wird. Dabei ist vor allem wichtig, dass eine Etablierung von anderen Narrationen im Bezug auf jegliche Formen von Rassismus stattfindet. Durch solche Bemühungen kann es zu der Entwicklung eines allgemeinen gesellschaftlichen Verständnisses über Rassismus kommen.