Der NSU-Komplex und die Wissenschaft

Welche Konsequenzen ergeben sich für Wissenschaftler_innen aus dem NSU-Komplex? Und welche Anregungen können dabei aus Erfahrungen in anderen Staaten gewonnen werden? Antworten auf diese Fragen standen im Vordergrund des Panels Perspektiven auf den NSU-Komplex der Tagung Blinde Flecken – Interdisziplinäre wissenschaftliche Perspektiven auf den NSU-Komplex am 11. Dezember, die von der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte mitorganisiert wurde.

Hajo Funke, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Autor des Buches Staatsaffäre NSU, forderte die Wissenschaft auf, mehr zu tun, um die Ursachen des Verlusts an politischer Kultur in den Sicherheitsbehörden zu analysieren, die die Taten des NSU ermöglicht habe. Besonders nahm er dabei die Rechtswissenschaft in die Pflicht: Staatsrechtler_innen müssten sich mit den Verfassungsschutzämtern, die in einem „dauerhaften Ausnahmezustand“ ohne wirksame rechtliche (oder auch öffentliche) Kontrolle operierten, auseinandersetzen und sie kritisieren. Dies geschehe bisher fast ausschließlich hinter vorgehaltener Hand.

Marginalisiertes statt korrumpiertes Wissen

Noch schärfer ging Massimo Perinelli, Historiker und Mitglied der Initiative Keupstraße ist überall, mit der Wissenschaft ins Gericht. Das institutionelle Wissen über Rechtsextremismus in Deutschland sei von den Geheimdiensten korrumpiert. Mitarbeitende der Verfassungsschutzämter gäben sich als Wissenschaftler_innen aus, übten als solche mit dem Extremismusmodell auch Einfluss auf die politische Bildungsarbeit aus und verharmlosten den Rassismus in Deutschland. Auch persönlich unabhängige Wissenschaftler_innen arbeiteten aus einer Mischung aus Autoritätshörigkeit und Eitelkeit mit den Geheimdiensten zusammen und ließen sich beeinflussen.

Perinelli forderte Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf, statt auf Dialog auf Boykott der Nachrichtendienste zu setzen und sich stattdessen dem marginalisierten, migrantisch situierten Wissen zuzuwenden. Um sich für solches staatsfernes Wissen „von unten“ zu öffnen, müssten Wissenschaftler_innen im Zweifel auch bereit sein, karriereabträgliche Schritte zu tun.

Internationale Perspektiven: Parallelen in Großbritannien und Nordirland

Internationale Aspekte brachten Eddie Bruce Jones und Daniel Holder in die Tagung ein. Frappierende Ähnlichkeiten wurden bei Strukturen wie institutionellem Rassismus und Staatsversagen deutlich. Der Jurist und Aktivist Bruce-Jones berichtete, mit welchen Maßnahmen im Vereinigten Königreich versucht werde, Todesfälle in polizeilichem Gewahrsam zu verhindern. So seien inzwischen verpflichtende, unabhängige Untersuchungen nach jedem Todesfall sowie Unabhängige Polizei-Beschwerdestellen (Independet Police Complaint Commissions, IPCC) installiert, das Konzept des institutionellen Rassismus wurde durch den Mac Pherson Report offiziell anerkannt und das zivilgesellschaftliche Engagement zu dem Thema verstärkt worden. Diese Anregungen könne Deutschland aufnehmen, denn auch hier seien diverse Fälle von tödlicher Gewaltanwendung der Polizei gegenüber intersektional benachteiligten Menschen bekannt. Bruce-Jones dämpfte jedoch auch den Optimismus und betonte, dass die Maßnahmen im Vereinigten Königreich bislang nicht zur Verhinderung weiterer Todesfälle geführt hätten.

Holder, stellvertretender Geschäftsführer der Belfaster Menschenrechtsorganisation Committee on the Administration of Justice, berichtete vom Einsatz von V-Leuten (informants) durch die britischen Sicherheitskräfte während des bewaffneten Konflikts in Nordirland in den 1960er bis 1990er Jahren. Diese hätten – toleriert, gefördert und gelenkt von den Sicherheitskräften – an konfessionell motivierten Tötungen teilgenommen, seien bei der Strafverfolgung geschont worden und die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse seien nicht genutzt worden, um die Tötungen zu verhindern. Im Rahmen des nordirischen Friedensprozesses sei es jedoch zu einer erfolgreichen institutionellen Reform des Polizeiapparats gekommen, in dessen Folge schließlich auch das System der V-Leute untersucht und schließlich reguliert wurde: Strikte Regeln, konsequente Aktenführung, starke Aufsichtsgremien, eine repräsentative Belegschaft und nicht zuletzt die Arbeit an der Entwicklung einer Menschenrechtskultur in der Polizei hätten große Hoffnungen unter Aktivist_innen erzeugt. Holders Beitrag endete jedoch mit einer bitteren Pointe: Im Jahr 2007 wurde das V-Leute-Wesen aus der Verantwortung der Polizei entfernt und den Geheimdiensten übertragen.

Gegen die Dekontextualisierung des NSU

Den letzten Beitrag der Konferenz lieferte Rechtsanwalt Carsten Ilius, der den Bogen von den Berichten seiner Vorredner hin zu seiner Kollegin Rechtsanwältin Antonia von der Behrens spannte, die den Tag mit ihrer Keynote eröffnet hatte. Sie vertritt zusammen mit Ilius die Hinterbliebenen von Mehmet Kubaşık, dem achten Opfer des NSU, im Münchener NSU-Prozess. Beide, von der Behrens und Ilius, stellten fest, dass der NSU einem europaweit verbreiteten Muster vermeintlicher rechter Einzeltäter mit Geheimdienstverbindungen entspreche.

Die Wissenschaft sei gefordert, die Verbrechen zu kontextualisieren, also die internationalen Parallelen aufzuzeigen sowie der staatlich betriebenen Ausblendung von Geheimdienstverwicklung und strukturellem Rassismus entgegenzuwirken. Das deutsche V-Leute-Wesen in der Neonazi-Szene, führte Ilius aus, lasse sich durchaus mit demjenigen in Nordirland vergleichen und vom Vereinigten Königreich könne man auch im Hinblick auf Polizei-Beschwerdestellen etwas lernen.

Wissenschaftliche Aufarbeitung und politische Forderungen

Die gerichtliche und parlamentarische Aufklärung des NSU-Komplexes ist zwar noch nicht beendet, klar scheint aber schon jetzt, dass sie nicht zur Beantwortung aller offenen Fragen führen wird. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas steht hingegen gerade erst am Anfang. So war die Berliner Tagung Blinde Flecken auch die erste ihrer Art. Es ist zu hoffen, dass Wissenschaftler_innen der Verantwortung nachkommen, die ihnen bei der Aufklärung zukommt. Interessant könnte dabei insbesondere sein, auch Parallelen zu anderen Staaten als dem Vereinigten Königreich genauer zu untersuchen.

Auch für politische Aktivist_innen ergaben sich mehrere Ansatzpunkte bis hin zu konkreten rechtspolitischen Forderungen nach Transparenz, Verantwortlichkeit und unabhängigen Stellen. Die Wichtigkeit der Auseinandersetzung machte Hajo Funke deutlich. Zum ersten Mal seit 1945, sagte er bei der Beantwortung einer Frage aus dem Publikum, gebe es in Deutschland derzeit wieder eine rechtsextreme Massenbewegung auf der Straße. Öffentlichkeit, Politik, Wissenschaft und auch Polizei müssten sich dafür einsetzen, den davon ausgehenden Gefahren zu begegnen.

Kein Versagen sondern Normalität
Der NSU und der Rassismus