Seit Ende 2018 gibt es in Deutschland mit der Eintragungsmöglichkeit „divers“ einen dritten, positiv benannten Geschlechtseintrag. Die Gesetzesänderung wurde in einem jahrelangen Kampf erstritten. Zu Ende ist der Kampf allerdings nicht, vielmehr hat ein neues Kapitel begonnen: Wer kann den Geschlechtseintrag „divers“ in Anspruch nehmen? Das BMI will den Eintrag auf intergeschlechtliche Menschen beschränken, ein durch das BMFSFJ gefördertes Rechtsgutachten kommt zu einem weiteren Verständnis.
Prolog
2017 entschied das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Dritten Option, dass es neben „männlich“ und „weiblich“ und dem offen gelassenen Geschlechtseintrag eines weiteren, positiv benannten Geschlechtseintrags bedarf, solange das Geschlecht aller Personen staatlich erfasst wird. Nach Diskussionen um die Bezeichnung eines solchen dritten Geschlechtseintrags wurde Ende 2018 § 45b Personenstandsgesetz eingeführt. Sowohl nach § 45b PStG als auch nach § 22 Abs. 3 PStG können Personen seitdem den Geschlechtseintrag „divers“ führen. § 45b PStG ermöglicht auch den Wechsel des Geschlechtseintrags zu „weiblich“, „männlich“ oder offen. Voraussetzungen dafür sind die Erklärung der antragstellenden Person beim Standesamt, welchen Geschlechtseintrag sie führen will. Die antragstellende Person muss außerdem eine ärztliche Bescheinigung vorlegen, die bestätigt, dass bei ihr eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ vorliegt. Personen vieler Geschlechter beriefen sich auf diese Norm. Sowohl Inter*personen als auch binäre Trans*personen als auch nicht-binäre Trans*personen, von denen einige auch Inter* sind, beantragten ihren jeweils passenden Geschlechtseintrag. Einige hatten schon während des Gesetzgebungsprozesses für sie passende Geschlechtseinträge gefordert. Doch nicht alle hatten mit den Anträgen bei ihren Standesämtern Erfolg. Bei Personen, die nicht intergeschlechtlich sind, stoßen dabei immer wieder auf dieselbe Ablehnungsbegründung: die antragstellende Person sei als Trans*person nicht von § 45b PStG erfasst, denn sie sei gar keine Person mit einer sog. Variante der Geschlechtsentwicklung. Doch was ist das eigentlich, eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“?
Biologistisches Geschlechtsverständnis
Das Bundesinnenministerium verschickte im April 2019 ein Rundschreiben an alle Innenministerien bzw. Senatsverwaltungen des Inneren der Länder mit Bitte um Weiterleitung an die Standesämter. Darin steht, Menschen mit einer sog. Variante der Geschlechtsentwicklung seien nur Menschen, „die körperlich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können“. Der Begriff beziehe sich auf medizinische Diagnosen, „bei denen die Geschlechtschromosomen, das Genitale oder die Gonaden inkongruent sind“. Dyadische nicht-binäre und binäre Trans*personen seien von der Norm nicht erfasst. Das Bundesinnenministerium versuchte den persönlichen Anwendungsbereich der Norm auf das somatische Geschlecht zu beschränken. Nur intergeschlechtlichen Körpern soll Zugang zum diversen Geschlechtseintrag gewährt werden. Mit diesem biologistischen Geschlechtsverständnis schreibt das Bundesinnenministerium gleichzeitig die Pathologisierung von Inter*menschen fort. Selbst innerhalb einer biologistischen Argumentation beweist es dabei wenig Expertise: Seine Definition vergisst Diagnosen, die auf einer hormonellen Inkongruenz aufbauen und hinkt dem medizinischen Geschlechtsverständnis hinterher, das längst anerkannt hat, dass sich Geschlecht nicht allein anhand des Körpers bestimmen lässt.
Grundrechtliches Geschlechtsverständnis
Die Medizin bezieht sich dabei auch auf die Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Geschlechtsbegriff entwickelt, der sich immer weiter vom Körper gelöst hat. In seiner Rechtsprechung zum Transsexuellengesetz hat es ausgeführt:
„Die Geschlechtszugehörigkeit kann nicht allein nach den physischen Geschlechtsmerkmalen bestimmt werden. Sie hängt wesentlich auch von der psychischen Konstitution eines Menschen und seiner nachhaltig selbst empfundenen Geschlechtlichkeit ab.“ (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005 – 1 BvL 3/03, Rn. 50; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 27.05.2008 – 1 BvL 10/05, Rn. 38; Beschluss vom 11.01.2011- 1 BvR 3295/07, Rn. 56)
Aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, ergibt sich ein Recht auf Anerkennung dieser geschlechtlichen Identität – auch für Inter* und Trans*personen. Dieses Recht besteht unabhängig von einer bestimmten körperlichen Konstitution. Vielmehr ist im Geschlechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts der Aspekt der Selbstbestimmung entscheidend. Grundrechtskonform ausgelegt bedeutet „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ daher, dass eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ jede Person besitzt, die ihr eigenes Geschlecht als abweichend von der cis-normativen Zweigeschlechterordnung begreift.
…auch im einfachen Recht verankert
Das grundrechtliche Geschlechtsverständnis ergibt sich auch aus dem einfachen Recht. Gleichzeitig mit der Einführung von § 45b PStG änderte der Gesetzgeber § 22 Abs. 3 PStG. Er wurde von einer Ist- zu einer Kann-Regelung. Vor dieser Änderung führte seit 2013 ein Neugeborenenkörper mit intergeschlechtlichen Geschlechtsteilen, die in einer binären Geschlechterordnung oft als „uneindeutig“ bezeichnet werden, zwangsläufig zu einem offen gelassenen Geschlechtseintrag. Der Eintrag des Neugeborenen erweckte damit den Eindruck, es hätte gar kein Geschlecht. Seit Ende 2018 können die Eltern entscheiden, ob das Kind als „männlich“, „weiblich“, „divers“ oder mit einem offenen Geschlechtseintrag registriert wird. Damit erkennt die aktuelle Gesetzeslage an, dass es keinen unweigerlichen Zusammenhang zwischen einem spezifischen Körper und dem Geschlecht eines Menschen gibt.
Epilog
Inzwischen haben sich auch das OLG Düsseldorf und das AG Münster für ein weites Verständnis von § 45b PStG im Wege einer verfassungskonformen Auslegung ausgesprochen. Der von der klagenden Person des Dritten Options-Verfahrens und ihrer Unterstützer*innengruppe geführte Kampf geht damit auch vor den Gerichten weiter. Es ist zu hoffen, dass er mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung aller Geschlechter endet. Alle Inter*personen, alle nicht-binären Menschen und alle Trans*personen haben ein Recht darauf, dass ihr Geschlecht rechtlich anerkannt wird. Ein verfassungskonformes Begriffsverständnis muss für alle Menschen, deren Geschlecht von den beiden als Norm gesetzten cis-Geschlechtern abweicht, offen sein.