In seinem Urteil in der Rechtssache „Egenberger“ vom 17. April 2018 hat der EuGH nicht nur den Schutz Konfessionsloser vor religiöser Diskriminierung, sondern auch vor einem als Herrschaftsrecht missverstandenen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gestärkt (vgl. aus der Berichterstattung; aus den Kommentierungen) (1). Zugleich hat er seine Rechtsprechung bestätigt, dass europäische Grundrechte auch in horizontalen Verhältnissen, also Streitigkeiten zwischen privaten Parteien, effektiven Rechtsschutz verdienen, selbst wenn die eigentlich streitgegenständliche Norm eine Richtlinie (hier: Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78) darstellt (2). Es wird schlussendlich deutlich, dass die EU sich nicht als ein loser Verbund kulturell unterschiedlicher Staaten versteht, sondern als eine stets um Inklusion in eine größere Rechtsgemeinschaft bemühte politische Union, deren Wertefundament sich in einer mit Rechtsschutzgarantie versehenen Gleichbehandlungsnorm kristallisiert (3).
(1) Wie der Generalanwalt feststellt, ist die ökonomische und arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Sozialsektors nicht zu unterschätzen. Diesen dominieren in Deutschland seit Langem die christlichen Kirchen – insbesondere mit der Caritas (katholisch) und der hier beklagten Diakonie (evangelisch). Das heißt in concreto, dass Sozialarbeiter*innen oder Entwicklungshelfer*innen etc. in Deutschland kaum Chancen auf Anstellung haben, wenn sie konfessionslos sind, weil die kirchlichen Einrichtungen mit ihrem Grundsatz der Pflicht zur Kirchenmitgliedschaft den Sozialsektor oft regional monopolisieren. Die Kirchen sind überdies der zweitgrößte Arbeitgeber im Land.
Vera Egenberger, konfessionslos, klagte deswegen nach einer glücklosen Bewerbung auf eine Stelle als Antirassismusreferentin bei der Diakonie, für die sie fachlich hoch qualifiziert war, wegen des Verdachts auf eine religiös diskriminierende Behandlung vor dem Arbeitsgericht. Sie bekam in zwei Instanzen nur teilweise Recht, so dass ihr der Weg zum BAG offenstand, das seinerseits die Auslegung des Art. 4 der RL 2000/78 als streitentscheidend betrachtete und deshalb den EuGH nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung ersuchte.
Der EuGH wurde in diesem Verfahren zum ersten Mal überhaupt um eine Auslegung des „Kirchenabsatzes“ der Gleichbehandlungsrichtlinie ersucht. Auch zum Art. 17 AEUV, der den Kirchen ein Statusrecht einräumt, gab es Grundsätzliches auszuführen, wie insbesondere in den Schlussanträgen von Generalanwalt Evgeni Tanchev deutlich wird.
Heikel ist die Verhältnisbestimmung von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und Diskriminierungsschutz nicht nur deshalb, weil es um den Widerstreit von organisierter, kollektiver Religionsfreiheit und individueller negativer Religionsfreiheit geht. Verhandelt wurde vor dem EuGH zudem das Selbstverständnis der Union als „Wertegemeinschaft“, wie etwa Verweise des GA u. a. auf Art. 7 EUV (Rechtsstaatsverfahren) nahelegen (s. u.). Deutschland wiederum war bereits vom EGMR im Verfahren Schüth gegen Deutschland verurteilt worden, weil es keinen hinreichenden Rechtsschutz gegen willkürliche Eingriffe der Kirchen in das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) bot – manche mögen sich an den Organisten erinnern, dessen Arbeitsvertrag aufgrund einer außerehelichen Beziehung gekündigt worden war. Da Deutschland gerichtlich einfach den Standpunkt der Kirche zugrunde gelegt hatte, statt die Nähe der Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag der Kirche zu prüfen, verdiente es nach Ansicht des EGMR die Verurteilung wegen Konventionsverletzung.
Der EGMR spielt auch konkret-rechtsdogmatisch eine gewichtige Rolle im Verfahren von Frau Egenberger – vor allem in den sorgfältig begründeten Schlussanträgen, von deren methodischer Gründlichkeit bei der Auslegung viele deutsche Gerichte einiges lernen könnten. Denn der EU-Grundrechtsschutz, etwa der Diskriminierungsschutz nach Art. 21 GRC, darf den Standard des EGMR nach Art. 52 III GRC nicht unterschreiten. Die EMRK bietet einen Mindestschutz, so dass einschlägige Rechtsprechung vom EuGH zu berücksichtigen ist – hier zugunsten von Frau Egenberger.
Hingegen stellt Art. 17 AEUV, die Statusgarantie der Kirchen in den europäischen Verträgen, gerade kein „Metaprinzip“ (so die Formulierung des GA, Rn. 93) des Europarechts dar. Der Status begründet keinen hierarchischen Vorrang. Die Vorschrift bezweckt zudem ganz sicher keine Festlegung auf ein „christliches Europa“ (so die berühmte Formulierung des Europarechtlers Joseph Weiler in einer Monographie und in der Sache auch im Zusammenhang mit dem Kruzifix-Verfahren Lautsi vor dem EGMR. Vielmehr war der organisatorische Status der Religionsgemeinschaften zwischen den Staaten so umstritten, dass er nicht über einen unionsrechtlichen Leisten geschlagen werden sollte – aber nicht mit der Absicht, das religiöse Ethos der Kirchen gegen das egalitär-individualistische der EU aufzuwerten. Die EU soll sich nicht in das Staat-Kirche-Verhältnis einmischen – aber sie muss ihre Unionsbürger*innen gegen die Kirchen schützen, wenn es um individuelle gleiche Rechte geht. Zwischen beiden Forderungen besteht kein Widerspruch. Art. 17 AEUV hat daher für unseren Fall Egenberger letztlich nichts zu besagen, so dass er auch im „rechtlichen Rahmen“ der Entscheidung der Großen Kammer gar nicht mehr explizit auftaucht.
Stattdessen konzentriert sich der EuGH ganz auf die Auslegung des Art. 4 II der Richtlinie, deren deutsche Umsetzung in § 9 I AGG hinter derselben zurückbleiben dürfte. Dabei definiert er die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Ausnahmenorm, nach der eine Ungleichbehandlung wegen der Religion dann keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion der Person „nach der Art dieser Tätigkeiten oder de(n) Umstände(n) ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“ (Art. 4 II 1 RL). Aus der Erwähnung der „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ im anschließenden Satz folgert der EuGH zudem, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung gelangen müsse.
Damit erteilt der EuGH zwei zentralen Argumenten der Kirche eine klare Absage: Erstens, dass die Rechtsordnung des kirchlichen Arbeitsrechts vom Europarecht unberührt bleibe – so eine Extremposition, die Art. 17 AEUV in einem fehlgeleitet weiten Verständnis verabsolutiert. Zweitens, dass jedenfalls die Kontrolldichte der staatlichen Gerichte dort zurückzunehmen sei, wo das Selbstverständnis der Kirchen berührt ist, also auch bei der entscheidenden Frage, wie nah eine Tätigkeit der Verkündigung des Glaubens ist – so kann man demgegenüber das Bundesverfassungsgericht bisher wohl zusammenfassen. Der EuGH entgegnet, dass es der effektive Grundrechtsschutz der Bürger*innen nicht zulässt, die Kontrolldichte auf eine Plausibilitätskontrolle des kirchlichen Standpunkts zurückzufahren.
Das ist deshalb richtig, weil das kirchliche Selbstverständnis kein Vorwand sein darf, um durch private Herrschaftsausübung, und sei es in kirchlichen Bewerbungsverfahren, individuelle Rechte außer Kraft zu setzen. Der Glutkern des Europarechts sind die Diskriminierungsverbote – das gilt für die Grundfreiheiten, aber mittlerweile auch für die Grundrechte, die nicht allein auf den Binnenmarkt bezogen sind. Erst recht muss sich das Fundament der europarechtlichen Ordnung dann bewähren, wenn wie im Fall Egenberger große Teile des Arbeitsmarktes und damit eine traditionelle europarechtliche Materie (Freizügigkeit der Arbeitnehmer!) im Spiel sind. Außerdem handelte es sich hier sogar um eine unmittelbare Diskriminierung.
Die Bedeutung des Falls Egenberger ist deshalb europarechtlich wie grundrechtstheoretisch eminent. Die egalitäre „DNA“ des Europarechts verbietet es, wie das Bundesverfassungsgericht „korporatistisch“ zu urteilen, also gesellschaftlichen Intermediären wie den Kirchen (oder in den 1970er Jahren den Hochschulen!) Machtbefugnisse an die Hand zu geben, die den Sinn von Grundrechten pervertieren. Grundrechte sollen (auch) soziale Herrschaft beschränken, nicht erweitern. Während das Bundesverfassungsgericht dieses egalitäre Verständnis der Rechte nur eingeschränkt teilt, erweist sich der EuGH als sein mutiger Verteidiger.
Weniger überzeugt dann der Rückgriff der Europarichter*innen auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, den der Wortlaut „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ für die Kriterien der beruflichen Anforderung nicht gerade herausfordert. Von Angemessenheit ist keine Rede. Der EuGH hätte folglich auch eine strikte Regel formulieren können: Sobald der Verkündigungsauftrag nicht oder nur ganz am Rande betroffen ist, übertrumpft das Diskriminierungsverbot das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Diese Regel wäre vollständig gerichtlich überprüfbar. Welche Tätigkeiten nämlich religiöser Natur sind, kann ein Gericht objektiv beurteilen, ohne die subjektive Definition eines Glaubensinhalts zu hinterfragen. So ähnlich sah es auch der Generalanwalt, der Ethos und Tätigkeit miteinander kontrastiert (Rn. 110), ohne allerdings auf den „Weichmacher“ Abwägung zu verzichten.
Angesichts der Kontroversen um die Fassung des Art. 4 II RL ist es aber politisch gut vertretbar, wie der EuGH die volle gerichtliche Durchsetzbarkeit bei Beweislastumkehr ohne Sonderregeln zu fordern, ohne auf eine Abwägung zu verzichten. Die Abwägung zeichnet dann als „juridische Form“ den damaligen politischen Konflikt nach, ohne ihn nach einer Seite hin materiell-rechtlich aufzulösen, mutet den Kirchen aber prozessual zu Recht einiges zu.
(2) Das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion hat wie das Recht auf effektiven Rechtsschutz zwingenden Charakter und verleiht dem Einzelnen ein subjektives Recht aus der Grundrechte-Charta. Das gilt gerade auch für Streitigkeiten zwischen Privatpersonen, über die staatliche Gerichte befinden müssen. Art. 21 und 47 GRC sind dabei als Maßstab selbstständiger Ausgangspunkt; das nationale Gericht hat aber die typisierte Abwägung mit entgegenstehenden Rechten in der Richtlinie als Konkretisierung der Charta mit zu berücksichtigen. Für die Charta gilt damit nicht – wie für das Grundgesetz – dass Grundrechte für sich selbst stehen und nicht durch einfaches (sekundäres) Recht autoritativ begrenzbar sind. Das Sekundärrecht der EU kann vielmehr als „Ausgestaltung“ der EU-Grundrechte deren echter Auslegungsmaßstab sein. Gemildert wird diese „Inversion“ der Geltungskraft durch die bloße Berücksichtigungspflicht der RL bei der nötigen Abwägung. Richtlinienrecht liefert damit die Richtschnur der EU-verfassungsrechtlichen Abwägung. Wiederum kann man fragen, warum es der EuGH nicht einfach bei der klaren Vorgabe der Richtlinie belässt und die zwei Ebenen (GRC und RL) verschränken will. Er sieht sich aber dazu gezwungen, weil er die Frage beantworten muss, wann aus den Grundrechten – und nach seiner ständigen Rechtsprechung nicht aus der Richtlinie – subjektive Rechte im horizontalen Verhältnis von Privatpersonen entspringen. Der Hintergrund für die unklare Verhältnisbestimmung ist also das zumal im Antidiskriminierungsrecht kaum mehr überzeugende, aber gefestigte Dogma des Europarechts, dass allein aus Richtlinien für Private keine Klagerechte gegen andere Private erwachsen.
(3) Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Egenberger stärkt die EU als Rechtsgemeinschaft der Unionsbürger*innen, die gleiche individuelle Rechte auch gegen verfestigte korporative Strukturen in ihren Mitgliedsstaaten durchsetzen können. Das Herrschaftsrecht mächtiger Privater wie der deutschen Kirchen erfährt eine Relativierung, die den Kirchen selbst nur nutzen kann. Sie können nämlich fortan nach fachlicher Kompetenz einstellen. Auch ihrem christlichen Selbstverständnis wird indirekt Genüge getan: Die egalitär strukturierte Glaubensfreiheit des EU-Rechts stößt die Kirchen auf den Kern ihrer eigenen Botschaft. Wollen sie Christus nachfolgen, müssen sie alles Interesse haben, nach der frohen Botschaft zu verfahren: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ (sprichwörtlich nach 1 Joh 2, 1-6) Das gilt nicht zuletzt für Kirchenmitarbeiter*innen.