Stell dir vor, du wirst Opfer sexualisierter Gewalt und niemand glaubt dir. Dir wird gesagt, dass du zu wenig weinst, dass dein Rock zu kurz war, dass du doch erst zugestimmt hattest – oder dir wird nichts davon gesagt, aber du merkst die Vorurteile in jeder Frage der Polizist_innen und Richter_innen, mit denen du dich im Lauf deiner Anzeige und Verhandlung auseinandersetzen musst. Wenn du dich in dieser Situation wiederfindest, bist du von expliziten oder impliziten Genderstereotypen in Sexualstrafrechtsverfahren betroffen.
Was sind Genderstereotype und wie wirken sie?
Laut Cook und Cusack bezeichnen Genderstereotype gesellschaftliche Vorurteile über männliche und weibliche Eigenschaften, Charaktermerkmale oder Rollen. Alle Geschlechter können diese Vorurteile zu ihrem Nachteil erleben, so wird z.B. Frauen eine unehrliche und manipulative Natur angedichtet, während Männern nach wie vor emotionale Verletzlichkeit abgesprochen wird.
Über den gesellschaftlichen Einfluss hinaus wirken sich Genderstereotype auch auf das Recht und auf die Anwendung des Rechts aus. So zeigen behördliche Vorstellungen darüber, wie sich insbesondere Frauen im Fall sexualisierter Gewalt zu verhalten haben, Einfluss auf den Ausgang von Ermittlungs- und Strafverfahren. Von Gewalt Betroffene sind häufig sowohl durch die Polizei wie auch durch Gerichte intimsten Fragen über ihre sexuelle Vergangenheit und ihr Verhalten vor und nach der Tat ausgesetzt. Dabei verdeutlichen Berichte aus der Beratungspraxis, dass Betroffene, die dem Stereotyp der „unbefleckten“ Frau nicht entsprechen oder als „untypisch“ wahrgenommenes Verhalten an den Tag legen, in den Augen der Richter_innen und Polizist_innen unzuverlässige Zeuginnen sind.
Leider drücken sich Genderstereotype in den seltensten Fällen derart explizit aus, dass sie einfach zu beanstanden wären (z.B. durch einen Befangenheitsantrag). Stattdessen wirken sie sich implizit negativ auf die Bewertung der Glaubwürdigkeit von Zeuginnen in Sexualstrafrechtsverfahren aus, ohne dass diesen im deutschen Recht wirkungsvolle Mittel zur Verfügung stehen, um sich zu wehren. In Deutschland gibt es bisher noch keine gerichtlichen Entscheidungen zu Genderstereotypen in Sexualstrafrechtsverfahren und auch ohne Tatzusammenhang sehen sich Zeuginnen oft mit Befragungen zu ihrem sexuellen Vorleben konfrontiert – trotz eines entsprechenden BGH-Beschlusses.
Mögliche Abhilfe aus den Menschenrechten?
Auf internationaler Ebene bietet sich jedoch ein besseres Bild. So ist z.B. die UN-Frauenrechtskonvention (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women – CEDAW) ein Silberstreif am Horizont. CEDAW wird als eine der wichtigsten völkerrechtlichen Menschenrechtsinstrument für Fraueneingeschätzt und bezieht an verschiedenen Stellen Position gegen Genderstereotype. Hier sind vor allem die Artikel 1, 2, und 5 lit.a des Konventionstextes, sowie die Allgemeinen Empfehlungen (AE) Nr. 25 und 33 interessant.
Artikel 1 definiert „Diskriminierung der Frau“ als „jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung Ausschließung oder Beschränkung, die zur Folge […] hat, dass die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete […] Inanspruchnahme […] der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Frau […] beeinträchtigt oder vereitelt wird“.
Artikel 2 fordert Vertragsstaaten dazu auf, eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen und präzisiert in lit. c, dass diese Forderung auch in Bezug auf den gesetzlichen Schutz der Rechte der Frau gilt.
Artikel 5 lit. a fordert eine Abschaffung aller auf „Vorstellung […] von stereotypen Rollenverteilungen von Mann und Frau beruhenden Praktiken“.
Aus dem Konventionstext selbst können dementsprechend noch keine direkten Hinweise auf einen Umgang mit Genderstereotypen entnommen werden. Allerdings nutzt der UN-Fachausschuss zur Frauenrechtskonvention die AE 25, um festzuhalten, dass Vertragsstaaten dazu verpflichtet sind, sich mit fortbestehenden Genderstereotypen in juristischen und gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen auseinanderzusetzen. In AE 33 hält der Fachausschuss fest, dass Artikel 5 lit. a eine Verpflichtung für Vertragsstaaten bedeutet, Genderstereotype, die Frauen davon abhalten ihre Rechte zu genießen und ihren Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen beschränken, aufzudecken und zu beseitigen. Desweiteren werden in AE 33 Genderstereotype explizit als ein Faktor genannt, der Frauen daran hindert, ihre vollen Rechte zu genießen.
Während weder im Konventionstext noch in den Allgemeinen Empfehlungen Genderstereotype explizit als konventionsrelevante Diskriminierungsform bezeichnet werden, wird deutlich, dass die CEDAW und ihr Ausschuss sie als Hürde zu einem gleichberechtigten Zugang zu Justiz und wirksamen Rechtsbehelfen sieht – z.B. durch die oben beschriebenen negativen Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeuginnen. Zusätzlich entschied der Ausschuss in Vertido v. Philippinen, dass Genderstereotype und Vergewaltigungsmythen zu einem ungerechtfertigten Urteil seitens des philippinischen Gerichts führten und verlangte unparteiische und gerechte Gerichtsverhandlungen, die nicht von Genderstereotypen oder Vorurteilen beeinflusst werden.
Auf zum CEDAW-Ausschuss?
Seit Deutschland die Konvention 1985 ratifizierte, ist es Staatsbürgerinnen möglich, eine Individualbeschwerde vor den CEDAW-Ausschuss zu bringen, wenn sie sich in ihren Konventionsrechten verletzt sehen. Doch bevor ein Fall vor dem Ausschuss landet, müssen alle nationalen Rechtsmittel erschöpft sein – das bedeutet vor allem viel Zeit, Energie, Ressourcen und eine Frau, die bereit ist, ihre Geschichte wieder und wieder und wieder zu erzählen.
Aufgrund der bisher veröffentlichten Allgemeinen Empfehlungen und der Entscheidungen des CEDAW Ausschusses ist der Erfolg einer gut ausgearbeiteten und belegten Beschwerde zu Genderstereotypen in deutschen Sexualstrafrechtsverfahren nicht unwahrscheinlich.
Würde sich die deutsche Politik gewillter zeigen, Missstände in Sexualstrafrechtsverfahren anzuerkennen, gäbe es auch ohne Beschwerde beim CEDAW-Ausschuss einige Veränderungen, die keines großen Kraftaufwandes bedürften – allen voran eine bessere Ausbildung von Polizeibeamt_innen und Richter_innen sowie bundesweite Sonderdezernate für sexualisierte Gewalt, verstärkte Aufklärung zu Dynamiken der Beziehungsgewalt und eine Erleichterung der psychosozialen Prozessbegleitung. Angesichts bisher ausbleibender positiver Entwicklungen bleibt die Hoffnung, dass die nach der Ratifizierung der Istanbul Konvention stattfindende Überprüfung durch das GREVIO-Komitee zu einer signifikanten Verbesserung der Lage von Zeuginnen in Sexualstrafrechtsverfahren führt.
Dieser Blogartikel beruht auf der Forschung „Genderstereotype in Sexualstrafverfahren aus menschenrechtlicher Sicht“, die gemeinsam mit Mia Thiel von den Rechtswissenschaften durchgeführt wurde.