Getötet weil sie Frauen sind – Femizide und die fehlende Umsetzung der Istanbul-Konvention

Im April 2022 wird die 31-jährige Zohra G. von ihrem Ex-Mann in Berlin-Pankow auf offener Straße erstochen. Nicht zuletzt, um genau solche Taten zu verhindern, schloss der Europarat vor über zehn Jahren das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sog. Istanbul-Konvention (IK). Doch obwohl Deutschland zu den Erstunterzeichnern gehörte, nimmt die Gewalt gegen Frauen in Deutschland weiter zu. Zwar wird die Debatte darum im politischen Diskurs aktuell lauter, die Umsetzung der IK bleibt in Deutschland jedoch weiter hinter den völkerrechtlichen Anforderungen zurück.

Auch Frauen sind Menschen – Femizide als Menschenrechtsverletzung

„Mankind“, „le droit de l’homme“… in vielen Sprachen wird das Wort für Mann in seiner Bedeutung mit Mensch gleichgesetzt. So beschreibt auch homicide im Englischen allgemein eine Tötung. Im starken Kontrast dazu prägte die Soziologin Diana Russell den Begriff femicide als Bezeichnung für die Tötung einer Frau, gerade weil sie eine Frau ist.
Zu den Erscheinungsformen von Femiziden zählen die Tötungen von weiblichen Neugeborenen, Mitgifttötungen, die Tötung einer Frau aus Frauenhass, die Tötung von Sexarbeiterinnen oder von trans und lesbischen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität bzw. sexuellen Orientierung. Die weltweit häufigste Form des Femizids ist jedoch die Tötung einer Frau im Rahmen von Partnerschaftsgewalt. Auch in Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-) Partner getötet.
Der Begriff „Femizid“ selbst taucht in der IK zwar nicht ausdrücklich auf. Es handelt sich dabei aber um die gravierendste Form der geschlechtsspezifischen Gewalt. Als erster bindender Vertrag, der die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zum Ziel hatte, etablierte 1994 das interamerikanische Übereinkommen zur Verhütung, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, die sog. Belém-Konvention, das Konzept der geschlechtsspezifischen Gewalt. Inzwischen ist geschlechtsspezifische Gewalt im internationalen Diskurs als Menschenrechtsverletzung anerkannt und auch in Art. 3 lit. a IK explizit benannt.

Tatsächlicher Schutz statt bare minimum – vertragsrechtliche Pflichten des Staates

Die Konvention wird als völkerrechtlicher Vertrag gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG über ein sog. Zustimmungsgesetz in die deutsche Rechtsordnung aufgenommen. Dadurch hat sich Deutschland (samt der einzelnen Bundesländer) als Vertragspartei verpflichtet, die IK umzusetzen und anzuwenden. Anderenfalls begeht es eine Menschenrechtsverletzung.
Allein durch Gesetze, die geschlechtsspezifische Gewalt kriminalisieren, ist dies nicht getan. Verlangt wird eine ganzheitliche Umsetzung, die einen tatsächlichen Schutz vor Gewalt für Frauen und Mädchen ermöglicht. So fordert der durch den Europarat eingesetzte unabhängige Expert*innenausschuss GREVIO, von den Vertragsstaaten umfassende und koordinierte Regelungen auf allen Regierungsebenen und durch alle relevanten Stellen und Institutionen zu entwerfen und umzusetzen, vor allem unter Einbeziehung von NGOs sowie nationalen, regionalen und lokalen Parlamenten und Behörden.

Alles nur leere Versprechen? Zur (fehlenden) Umsetzung und Anwendung in Deutschland

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die tatsächlich ergriffenen staatlichen Maßnahmen in Deutschland. Gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. a ist es das Ziel der IK, „Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“. Auf allen drei damit angesprochenen Ebenen versagt der deutsche Staat bei der Umsetzung. Denn obgleich in der öffentlichen Wahrnehmung das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt noch überwiegend außerhalb von Deutschland verortet wird, werden auch hier Frauen Opfer von Femiziden.

Staatliches Versagen zeigt sich hinsichtlich der Verhütung von Gewalt vor allem in den mangelnden Vorkehrungen zum Schutz von besonders gefährdeten Frauen. Während Art. 23 IK ausreichend gut zugängliche Schutzunterkünfte für von Gewalt betroffene Frauen fordert, wurde gerade in der Pandemie nochmals deutlich, dass es an eben solchen mangelt. Gemessen an den Empfehlungen des Europarates fehlen rund 15.000 Plätze in Frauenhäusern in Deutschland. Von einer Umsetzung der Vorgaben ist Deutschland hier also weit entfernt.

Hinsichtlich der geforderten Verfolgung wird die Abweichung von den Vorgaben der IK am deutlichsten im Strafrecht. Art. 46 lit. a IK führt Umstände auf, die erschwerend auf das Strafmaß wirken sollen. Darunter fallen auch Straftaten, die gegen eine frühere oder derzeitige Ehefrau oder Partnerin ausgeübt werden. In schockierendem Kontrast dazu vertritt der BGH bis heute, wie zuletzt in einem Urteil von 2019, dass eine Trennung ausgehend vom späteren Mordopfer gegen die Annahme niedriger Beweggründe spreche. Wenn der Täter „sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“, sah der BGH keinen Anlass, von niedrigen Beweggründen i.S.d. § 211 Abs. 2 StGB auszugehen. Statt den hinter einer solchen Tat liegenden patriarchalen Herrschafts- und Besitzanspruch zu verurteilen, wird eine von der Frau ausgehende Trennung somit sogar zu Gunsten des Täters berücksichtigt. Diese opferbeschuldigende Entlastung des Täters in Form einer Strafminderung verfestigt weiter solche patriarchalen Besitzkonstruktionen, die Frauen als Objekte männlicher Macht verstehen. Indem deutsche Gerichte so argumentieren, handeln sie im absoluten Widerspruch zur IK.
Die Tatsache, dass hier erschreckende Defizite herrschen, scheint inzwischen auch beim Gesetzgeber angekommen zu sein. So ist eine Reform des § 46 Abs. 2 StGB in Planung, nach der explizit „geschlechtsspezifische“ Beweggründe bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssten. Als Begründung für diese Änderung zieht das BMJ sogar explizit Intimpartner-Femizide als Beispiel heran. Dies ist zumindest eine Anerkennung des Problems und ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Zuletzt ist der für die in Art. 1 IK geforderte Beseitigung von Gewalt notwendige strukturelle Wandel in Deutschland noch nicht zu erkennen. Da die IK geschlechtsspezifische Gewalt „als Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern“ versteht, fordert sie Maßnahmen, diese aufzubrechen. Dazu zählen nach Art. 15 IK z.B. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen von Fachkräften. In Deutschland fehlt es allerdings an diesen Sensibilisierungsangeboten, vor allem in Justiz und Polizei.

Im eingangs erwähnten Fall von Zohra G. zeigte sich dieses Defizit. Es versagten sowohl das Jugendamt, sowie das Familiengericht, die den Antrag auf Schutzanordnung (also einem Näherungsverbot gegenüber dem Ex-Mann) trotz der gebotenen Eile auch nach über einem Monat nicht bearbeitet hatten. Nach immensem öffentlichem Druck werden nun auch polizeiinterne Ermittlungen durchgeführt, um eventuelles Fehlverhalten aufzuklären.
Neben den staatlichen Behörden soll aber auch der private Sektor Teil des strukturellen Wandels sein. Art. 17 IK betont zu diesem Zweck die Einbeziehung der Medien. Die Berichterstattung über Femizide als „Beziehungsdramen“ zeigt die mangelnde ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem.

Istanbul Konvention endlich umsetzen!

Es wird insgesamt deutlich, dass Deutschland seinen vertraglichen Pflichten aus der IK nicht ausreichend nachkommt. Die bloße Existenz der IK auf dem Papier bedeutet für Frauen in Deutschland keinen besonderen Schutz. Während beispielsweise der Austritt der Türkei aus der IK von zahlreichen deutschen Politiker*innen und Medien zurecht als misogyne und patriarchale Politik gebrandmarkt wurde, ist auch ein Verbleiben als Vertragspartei, ohne sich um eine Umsetzung und (mittelbare) Anwendung zu bemühen, am Ende nur Symbolik und eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen. Patriarchale Gesellschaftsmuster müssen als Grundlage geschlechtsspezifischer Gewalt ganzheitlich bekämpft werden, um Femizide verhindern und Frauen ausreichend schützen zu können. Hier gibt es in Deutschland weiterhin viel Nachholbedarf.

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