„Quarantänemaßnahmen sorgen für Zunahme häuslicher Gewalt“ titeln aktuell viele große Zeitungen. Statistiken aus China und Frankreich belegen, dass die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen durch Eindämmungsmaßnahmen gegen das SARS-2-Coronavirus drastisch zunimmt. Es ist zynisch, dass es zuerst einer Pandemie bedarf, um geschlechtsspezifischer Gewalt zu der dringend notwendigen Aufmerksamkeit zu verhelfen, waren beispielsweise Frauenhäuser auch schon lange vor Corona chronisch unterfinanziert.
Daher lohnt sich der Blick auf die tatsächliche und rechtliche Situation in Deutschland sowie aktuelle Forderungen auch jenseits der Corona-Krise.
Rechtliche Verpflichtungen
Neben der staatlichen Verpflichtung, das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Frauen wie von allen anderen Menschen auch zu schützen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), der Staatszielbestimmung der Geschlechtergerechtigkeit aus Art. 3 Abs. 2 GG und dem privatrechtlichen Gewaltschutzgesetz bestehen insbesondere internationale Regelungen.
Die Istanbul-Konvention (IK) ist das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, das Deutschland 2011 unterzeichnet und 2017 ratifiziert hat. Als Völkerrechtsvertrag ist es gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG durch das Umsetzungsgesetz vom 17.07.2017 seit dem 01.02.2018 Bestandteil der deutschen Rechtsordnung mit dem Rang eines einfachen Bundesgesetzes geworden. Jedoch hat Deutschland einen Vorbehalt gegen Art. 59 der IK vorgenommen: geflüchtete Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind oder als Zeuginnen in Strafverfahren aussagen, können kein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten. Eine dreijährige Ehebestandszeit bürdet diesen Frauen darüber hinaus ein hohes Gewaltrisiko auf.
Wie steht es um geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland?
Die kriminalstatistische Auswertung umfasst Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und seit dem Berichtsjahr 2017 auch Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution. Ebenfalls seit 2017 werden Bedrohung, Stalking oder Nötigung als „psychische Gewalt“ aufgeführt
Jeden Tag versucht ein Mann, eine Frau zu töten, jeden dritten Tag hat er damit Erfolg. Über 114.000 Frauen waren 2018 offiziell von Gewalt betroffen. Angesichts der unzähligen Mobilisierungsbarrieren ist von einer enormen Dunkelziffer auszugehen.
Enge, Isolation, Existenzängste und Unsicherheit über die Zukunft begünstigen Gewalt gegen Frauen – und auch gegen Kinder – in Zeiten wie der COVID-19-Pandemie. Zugleich ist der Zugang zu Hilfe deutlich erschwert. Heimlich telefonieren? Das könnte für manche Betroffene in mehr Gewalt enden. Unbeobachtet eine E-Mail versenden? Schwierig, wenn die Frau kein eigenes Smartphone oder Laptop besitzt. Der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt ist, auch wenn sie in allen Bevölkerungsschichten auftritt, also auch eine Frage von Privilegien. Der fehlende Zugang zu Schutz ist oftmals gekoppelt an die finanzielle Situation, den Aufenthaltsstatus, die Geschlechtsidentität oder Behinderungen.
Die Situation der Schutzeinrichtungen
Wer schon zu „Normalzeiten“ im Krisenmodus ist, kann in der Krise kaum angemessen reagieren. Weil Frauenhäuser aufgrund der (selbstverständlich angemessenen) Hygienevorgaben nicht komplett ausgelastet sein dürfen, aber gleichzeitig mehr Frauen Hilfe benötigen, mieten einige Bundesländer bereits leerstehende Hotels an, um mehr Platz zu schaffen. Den drastischen Personalmangel behebt diese Lösung allerdings nicht. Die nun erfolgte Einstufung von Mitarbeiter*innen von Schutzeinrichtungen, insbesondere Frauenhäusern, als systemrelevant ist in der akuten Lage ein erster richtiger Schritt.
So oder so – die Plätze sind auch jenseits der Krise viel zu knapp. Auf die von der Istanbul-Konvention geforderte Dichte von einem Familienplatz pro 10.000 Einwohner*innen (Art. 23 Kommentar Nr. 135 IK) kommen bei weitem nicht alle Bundesländer. In Deutschland fehlen insgesamt 14.600 Plätze. Nur jede vierte Einrichtung ist barrierefrei zugänglich, obwohl Frauen mit Behinderungen in besonderem Maße von Gewalt betroffen sind. Regelungen für eine einheitliche Finanzierung gibt es nicht. Auch eine ausreichende technische Infrastruktur ist vielerorts Mangelware. Dabei zeigt die Corona-Krise eindrücklich, wie wichtig es ist, auch durch gesicherte Chat-Plattformen mit Betroffenen in Kontakt treten zu können.
Aufmerksamkeit auch nach dem coronabedingten Medienhype
Wie von zahlreichen Verbänden schon lange gefordert, steht die vollständige und vorbehaltlose Umsetzung der Istanbul-Konvention an erster Stelle. Mit entsprechender Finanzierung und Ausstattung muss die Infrastruktur an Beratungs- und Schutzeinrichtungen erweitert, barrierefrei ausgebaut und modernisiert werden. Doch auch hier gilt: Völkerrechtliche Verträge kennen kein Kompetenz- und Verantwortungsgerangel im föderalen System. Für die aktuelle Pandemiesituation, aber auch darüber hinaus, ist die schnelle und unbürokratische Zusicherung der Finanzierung an die Kommunen seitens der Länder mit finanzieller Unterstützung des Bundes daher überlebenswichtig. Zentral ist für jede Art der Unterstützung jedoch, dass diese zuvorderst an den tatsächlichen Bedürfnissen der Frauenhäuser ausgerichtet ist. Diese fordern eine Finanzierungsreform weg von der einzelfallabhängigen Tagessatzfinanzierung.
Ein Blick auf Europa zeigt, dass sechs EU-Mitgliedsstaaten und die EU als eigene Vertragspartei die Istanbul-Konvention noch nicht ratifiziert haben. Auch die Strategie der EU-Kommission zur Gleichstellung der Geschlechter vom 5. März 2020 ist einigen EU-Parlamentarier*innen nicht konkret genug für eine echte Veränderung. Aus diesen Gründen fordern Abgeordnete von Grünen und Linken im Europaparlament eine EU-Richtlinie zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Diese könnte mehr Verbindlichkeit schaffen als eine wenig detaillierte „Strategie“, da die Mitgliedsstaaten sie in ihr nationales Recht umsetzen müssten und für die fehlende oder unzureichende Umsetzung im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH zur Verantwortung gezogen werden könnten.
Schließlich wird auch Deutschland nicht darum herumkommen, sich der in anderen Ländern schon energisch geführten Debatte um Femizide und ihrer rechtlichen Einordnung zu stellen. Zu oft werden Frauentötungen als „Trennungstaten“ abgestempelt und eine sehr zurückhaltende Prüfung der niedrigen Beweggründe beim Mord (§ 211 Abs. 2 Gruppe 1 Nr. 5 StGB) vorgenommen, was den Art. 43, 46 der IK ebenfalls nicht ausreichend nachkommt.
Gesamtkonzept statt punktuelle Symptombekämpfung!
Selbst die besten Einzelmaßnahmen können nicht so effektiv sein wie ein umfassendes Gesamtkonzept, das gesellschaftliche Machtstrukturen und intersektionale Diskriminierungen berücksichtigt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist kein „Nischenthema“ und erst recht keine „Frauenpolitik“, sondern Sicherheitspolitik im engsten Sinne. Solange dies in Deutschland noch nicht vollumfänglich verstanden wird, liegt auch im Jahr 2020 noch ein weiter Weg vor uns.