Deutschland und der Rassismus. Welche Lehren ziehen wir aus den Morden in Hanau?

Deutschland hat ein Rassismusproblem. Das ist zwar keine Neuigkeit, aber spätestens seit den Vorfällen in Hanau wieder präsenter denn je. Die Bundesrepublik verletzt aktuell nicht nur ihre Pflicht, Menschen vor Rassismus zu schützen, sondern diskriminiert auch aktiv selbst. Das muss sich ändern. Jetzt.

Die Hanauer Morde

Ein männlicher deutscher Staatsangehöriger erschoss am späten Abend des 19.02.2020 zuerst im Stadtzentrum von Hanau vier Menschen in einer Shisha-Bar und tötete anschließend in einer wenige Minuten entfernten zweiten Bar sowie einem Kiosk fünf weitere Menschen. Danach fuhr er in einen anderen Stadtteil und nahm seiner Mutter und sodann sich selbst das Leben. Abgesehen von den zehn Menschen, die er (ausgenommen sich selbst) ermordet hat, sind mehrere Verletzte zu beklagen.

Obwohl der Täter mit Ausnahme seiner Mutter ausschließlich Menschen mit einem migrantischen Hintergrund ermordete, meldete ein Sprecher der Polizei zunächst, dass es sich um „eine Beziehungstat oder eine wahllos begangene Tat“ handeln könne. Diese Einschätzung wurde zwar schon wenig später korrigiert, allerdings waren zu diesem Zeitpunkt auch bereits Videobotschaften und eine Art Manifest auf der Internetseite des Täters entdeckt worden, die eine eindeutig rassistische Sprache sprechen.

Sogar in Fällen wie diesem, in denen ein rassistisches Motiv von Seiten des*der Täter*in eklatant hervorsticht, wird dieses von den ermittelnden Beamt*innen oft nicht (auf Anhieb) erkannt.

Deutschland ist zum Schutz von Minderheiten verpflichtet

Die Grund- und Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich Deutschland verpflichtet hat (insbesondere sind hier die Anti-Rassismus-Konvention (ICERD), Art. 3 III des Grundgesetzes (GG) und Art. 2, 3 i.V.m Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu nennen), beschränken sich jedoch nicht etwa auf die Verantwortung des Staates, Gewalttaten auf mögliche rassistische Motive zu untersuchen und diese strafrechtlich effektiv zu verfolgen und zu bestrafen, wie es vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Strafsache Nachova entschieden wurde (siehe EGMR, Nachova und andere/Bulgarien [Große Kammer] (Nr. 43577/98 und 43579/98), 6. Juli 2005). Nein, ihre Einhaltung erfordert auch, dass solchen Gewaltakten bereits präventiv vorgebeugt wird und dass man geeignete Schutzmaßnahmen gegen sie ergreift, sobald Gefährdungslagen ersichtlich werden. Entsprechendes wurde vom EGMR in der Strafsache Burlya und andere entschieden (siehe EGMR, Burlya und andere/Ukraine (Nr. 3289/10), 06. November 2018).

Welche Konsequenzen wurden aus den Morden in Hanau gezogen?

Im Angesicht der jüngsten Gewalttaten wurden bereits einige Maßnahmen getroffen, um diesen beängstigenden Entwicklungen rechter Gewalt entgegenzuwirken. Unter anderem hat das Bundeskabinett beschlossen, einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rassismus einzurichten, während Bundesinnenminister Horst Seehofer plant, einen unabhängigen Expertenkreis für Muslimfeindlichkeit/Islamfeindlichkeit einzusetzen.

Diese Maßnahmen sind sehr zu begrüßen, reichen aber bei weitem nicht aus. Rassismus ist ein strukturelles Problem, das nicht durch einzelne Maßnahmen behoben werden kann, sondern gegen das umfassend vorgegangen werden muss.

Welche Konsequenzen sind noch zu ziehen?

Essentiell ist zunächst einmal, dass sich der Staat mit migrantischen Personen solidarisch zeigt, statt sie im öffentlichen Diskurs regelmäßig mit Kriminalität in Verbindung zu bringen oder gar selbst rassistische Zuschreibungen vorzunehmen. Praktiken wie Racial Profiling sowie alle weiteren Formen von institutionalisierter rassistischer Ungleichbehandlung verstoßen nicht nur gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 III GG, sondern führen auch verstärkt dazu, dass sich migrantische Gruppen von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt sehen und wenig bis gar kein Vertrauen in die deutschen Behörden setzen.

Ein wichtiger Schritt, um das erschütterte Vertrauen der Betroffenen wieder zu festigen bzw. wiederherzustellen, ist, ihnen endlich den gleichen Rechtsschutz zukommen zu lassen, wie ihn weiße Menschen in Deutschland genießen. Hierfür ist es notwendig, die von Diskriminierung Betroffenen und ihre Organisationen ernst zu nehmen und ihre Perspektive bei der Entwicklung von Lösungsansätzen miteinzubeziehen. Ob bzw. ab wann es beispielsweise notwendig ist, religiösen/zivilgesellschaftlichen Einrichtungen einer Minderheitengruppe oder Einzelpersonen aus dieser Gruppe Personenschutz zur Verfügung zu stellen, können die Betroffenen selbst am besten abschätzen. Ihre Meinung sollte in jedem Fall ernst genommen werden und maßgeblich in die Entscheidung der Beamt*innen einfließen.

Letztere müssen außerdem rassistische sowie antisemitische Straftaten konsequent verfolgen. Zwar erfordern das Strafgesetzbuch (§ 46 II StGB) und die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (§ 86 RiStBV) mittlerweile, dass rassistische oder antisemitische Tatmotive in einem Verfahren strafschärfend berücksichtigt werden, jedoch gibt es Hinweise darauf, dass die Ermittlungsbehörden und die Justiz dies nicht umsetzen oder die Beweggründe gar nicht erst hinreichend erkennen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Fortbildungsmaßnahmen umso wichtiger, die die Beamt*innen gezielt für das Erkennen von und für den Umgang mit rassistischen und antisemitischen Vorfällen sensibilisieren. Ein entsprechendes Konzept wurde beispielsweise im Rahmen des vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) durchgeführten Modellprojektes ‚Rassismus und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz‘ vorgelegt. Es kommt nun darauf an, entsprechende Strategien konsequent und bundesweit in der Praxis umzusetzen. Die hierbei vermittelten Begriffsbestimmungen für Rassismus und Antisemitismus sollten außerdem an den Stand der Gesellschaftswissenschaften angelehnt sein. Von diesen wären dann auch die Indikatoren zum Erkennen eines entsprechenden Motivs einer Straftat abzuleiten.

Rassismus findet nicht ausschließlich am rechten Rand des politischen Spektrums statt

Auch die völkerrechtliche und für Deutschland verbindliche Rassismusdefinition muss beachtet werden. Gemäß Art. 1 ICERD beginnt rassistische Diskriminierung bereits mit jeder auf rassistischen Merkmalen beruhenden „Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung“ eines Menschen, „die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Diese Definition lässt rassistische Diskriminierung also nicht erst mit zielgerichteten Beeinträchtigungen beginnen, sondern bereits mit formal neutralen Handlungen, die sich auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe nachteilig auswirken – auch dann, wenn dies unbewusst geschieht. Führt man sich dies vor Augen, wird schnell klar, dass wir alle ein Rassismusproblem haben, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Ganz besonders sind jedoch alle den Staat repräsentierenden Behörden in der Pflicht, diesbezüglich Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Strukturellen Rassismus in deutschen Behörden angehen

Zur Bekämpfung von strukturellem Rassismus wäre das Einrichten von unabhängigen Polizeibeschwerdestellen, denen die Beamt*innen Rechenschaft schulden, in höchstem Maße förderlich. Durch den über diese stattfindenden Austausch mit den Betroffenen würde nicht nur die polizeiliche Arbeit im Bereich rassistischer Vorfälle verbessert, sondern auch völlig neu legitimiert werden. Gleichzeitig würde man den Betroffenen eine aktive Einflussnahme auf das tatsächliche Durchsetzen ihrer Rechte ermöglichen. Wie eine entsprechende Beschwerdestelle gestaltet sein müsste, um Erfolg zu haben, wurde bereits in einem Beitrag von Anna-Lena Dohmann auf diesem Blog dargelegt.

Weiter müssten sämtliche Strafverfolgungsbehörden entsprechende Fortbildungsmaßnahmen für ihre Mitarbeiter*innen einführen, durch die sich die Mitarbeiter*innen (regelmäßig) mit ihrer eigenen Sozialisierung auseinandersetzen. Dies gilt vor allem für die Justizbehörden, da sie in der Verantwortung stehen, aktiv gegen rassistische Handlungen vorzugehen und diese dementsprechend auch gezielt erkennen und ihre eigenen internalisierten Vorurteile abbauen können müssen. Auch für Fortbildungen in der Strafjustiz hat das DIMR eine Materialsammlung erarbeitet. An dem notwendigen Material fehlt es also nicht. Allerdings sind beispielsweise Richter*innen innerhalb ihres gesamten Berufslebens nicht zum Wahrnehmen einer einzigen Fortbildungsmaßnahme verpflichtet. Das muss sich dringend ändern.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Bundesrepublik die Pflicht hat, Menschen aktiv vor rassistischer Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Um diesen Schutz zu gewähren, muss sie zunächst ihre eigenen rassistischen Praktiken beenden und sich solidarisch gegenüber Menschen mit Rassismuserfahrungen verhalten. Deren Perspektive muss in Zukunft viel stärker berücksichtigt und ihr Wissen mit in entsprechende Problemlösungskonzepte einbezogen werden.

Zudem muss das Problem des strukturellen Rassismus innerhalb deutscher Behörden offiziell anerkannt werden. Im weiteren Vorgehen ist dann nicht nur das Einrichten von unabhängigen Polizeibeschwerdestellen, sondern auch Sensibilisierungsmaßnahmen für Strafverfolgungs- und Justizbehörden angezeigt. Diese müssen endlich die in ICERD festgelegte Rassismus-Definition als Grundlage für die Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus anwenden.

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