Eine Urteilsbegründung der 4. Kammer des Verwaltungsgerichtes (VG) Gießen strotzt von rechtsextremen Argumentationsmustern. In der Auseinandersetzung mit einem Wahlplakat der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) macht sich der Richter dessen Inhalt, Migration töte und die Bevölkerung müsse sich gegen eine Invasion zur Wehr setzen, in großen Teilen zu eigen. Ein Blick auf ein Urteil, das fassungslos und auf ein größeres Problem aufmerksam macht.
Der Hintergrund: Die NPD im Europawahlkampf
Ausgangspunkt des Urteils (Aktenzeichen 4 K 2279/19.GI, Randnummern zitiert nach Juris) war eine Klage der NPD gegen eine hessische Gemeinde. Deren Ordnungsbehörde hatte der Partei vier Tage vor der Europawahl am 26. Mai per Beseitigungsverfügung aufgegeben, ein Wahlplakat mit der Aufschrift „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand – jetzt“ binnen zwei Tagen zu entfernen. Dagegen wendete sich die Partei im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage.
Die Entfernung von Wahlplakaten ist in einem Rechtsstaat, in dem Wahlen einen zentralen Legitimationsmoment darstellen, naturgemäß ein besonders sensibles Thema. Es bedarf gewichtiger Gründe, um sie zu rechtfertigen. In einem Verfahren, das das gleiche Plakat betraf, sah sie etwa das VG Dresden (Aktenzeichen 6 K 385/19) im strafbaren Gehalt der Aufschrift des Wahlplakats. Durch die pauschale Aussage, alle Ausländer*innen in Deutschland seien potentiell der Begehung eines Tötungsdelikts verdächtig, erfülle es den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB – der Volksverhetzung. Die Verletzung eines Strafgesetzes aber stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar: Eine Beseitigungsanordnung kann somit ordnungsrechtlich auf die entsprechende Generalklausel gestützt werden. In Hessen wäre das § 11 HSOG.
Der Richter am VG Gießen allerdings kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Ausführungen zur Begründetheit der Klage lesen sich teilweise, als handele es sich um eine Publikation der Neuen Rechten und nicht um eine Verlautbarung der Rechtsprechung. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Argumentationsstruktur des Gerichts. Diese ist zutiefst widersprüchlich, weist aber damit Parallelen zu ähnlichen Aussagen von Rechtspopulist*innen auf.
Volksverhetzung durch Hetze gegen Migrant*innen
Im Kern der Ausführungen des Richters steht die Frage, ob es sich bei der Aufschrift des Plakats um eine strafbare Volksverhetzung handelt oder nicht. Den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er*sie etwa eine vorbezeichnete Gruppe böswillig verächtlich macht. Dies hatte das VG Dresden mit guten Gründen bejaht: Die Behauptung, Migration töte, mache die Gruppe all derjenigen, die nicht in Deutschland geboren sind, in böswilliger Weise verächtlich. Denn sie erwecke den Eindruck, aus dieser Gruppe seien von jedem Individuum möglicherweise Tötungsdelikte zu erwarten. Dieses Ziel zeige sich auch an den Ortsnamen, die im Hintergrund des Plakats abgedruckt sind. Bei ihnen handelt es sich um Orte, in denen sich Tötungsdelikte ereignet haben, die tatsächlich oder vermeintlich von ausländischen Personen begangen worden sind (etwa das pfälzische Kandel).
Den öffentlichen Frieden zu stören geeignet sei insbesondere der Aufruf, die „Invasion“ zu stoppen und jetzt Widerstand zu leisten. Vor dem Hintergrund grassierender Gewalt gegen Geflüchtetenunterkünfte – um nur ein Beispiel zu nennen – muss man nicht besonders fantasiereich sein, um sich vorzustellen, worauf die NPD hier abzielt. Den öffentlichen Frieden stören solche Aufrufe allemal.
Völkische Argumente
Im Urteil entfaltet sich nun aber eine perfide Dialektik. Zunächst wendet sich der Richter der Auslegung des Wahlkampfaufrufes zu. Dieser sei nicht eindeutig genug, um den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen. Zwar sei das Wort „töten“ eindeutig (dies wird später noch wichtig): Es bedeute, die Existenz eines Lebewesens zu beenden. Dann aber holt der Richter den Kleinen Stowasser hervor, ein Schulwörterbuch für den Lateinunterricht, dem die meisten Lateinschüler*innen in herzlicher Abneigung verbunden sind. Der lateinische Grundbegriff „invadere“ bedeute unter anderem „eindringen“, könne aber auch überfallen und angreifen bedeuten. Nun folgt einer dieser Sätze, die fassungslos machen: „[E]r (der Begriff der Invasion, LK) beschreibt hier im übertragenen Sinne lediglich den Zustand des Eindringens von außen in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, wie es insbesondere im Jahr 2015 objektiv feststellbar war“ (Rn. 31). Damit bedient das Gericht selbst den Mythos einer Invasion, einer „Flüchtlingswelle“, die nach Deutschland eingedrungen sei – beides zentrale Motive der rechten Erzählung vom vermeintlichen Rechtsbruch, der sich 2015 in Deutschland ereignet habe (vgl. dazu die Übersicht bei Detjen/Steinbeis, 2019). Subtil rückt der Richter Flucht und Migration nach Deutschland dann in die Nähe einer Plage, wenn es den lateinischen Ausdruck „pestilencia populum invasid“ als Verwendungsbeispiel für „invadere“ anführt (Rn. 31) – „die Pest befällt das Volk“. Der Rechtswissenschaftler Max Pichl hat eine solche Argumentation zu Recht als „völkische Deutung der Geschichte“ ausgewiesen.
Der sprachliche Rahmen für das, was folgt, ist damit gesetzt. Zunächst aber verwässert das Gericht noch den Begriff der „Migration“, wenn es der lateinischen Ursprungsvokabel „migrare“ alle möglichen Zustände der Bewegung, tatsächlich und metaphorisch, entnimmt (etwa auswandern, wegziehen, aber auch übertreten und sterben) und so eine klare Definierbarkeit des Begriffs ablehnt. Aus dieser Undefinierbarkeit ergebe sich, dass der Slogan interpretationsoffen und somit auch nicht volksverhetzend sei.
Noch mehr Geschichten von der Geschichte
Was nun folgt, ist eine noch haarsträubendere Diskussion der Frage, ob der Gesamtaufmachung des Plakats eine volksverhetzende Wirkung zukommt. Konkret geht es um die Verbindung des Slogans „Migration tötet“ mit der Aufforderung „Widerstand – jetzt“ und der Nennung von Ortsnamen im Hintergrund.
Hier steht dem erkennenden Gericht der Begriff der „Migration“ auf einmal klar vor Augen: Es beschäftigt sich mit historischen „Migrationsbewegungen“, die „teilweise auch mit erheblichem tödlichem Ausgang [endeten]“ (Rn. 40). Zum Beleg wird etwa das Lieblingsbeispiel der Neuen Rechten bemüht, die Völkerwanderung ab dem vierten Jahrhundert unserer Zeit. Diese Bezugnahme ist historischer Unsinn und in sich widersprüchlich. Das zeigen Historiker*innen regelmäßig auf. Das Gericht stört das freilich nicht. Nach einem diffusen Lauf durch verschiedene Migrationsprozesse zitiert es Herfried Münkler mit den Worten, „dass, je komplexer und normativ anspruchsvoller eine Kultur ist, desto verwundbarer ist sie durch migrantische Veränderungen“ (Rn. 44). In dem zitierten Artikel kommt Münkler freilich nicht zu dem fatalistischen Schluss, der ihm hier in den Mund gelegt wird. Vielmehr weist er auf die positiven Effekte des menschheitsgeschichtlich omnipräsenten Phänomens der Migration hin und warnt vor Angstmache.
Diese Episode steht exemplarisch für das Vorgehen des Gerichts, das mithilfe einer Collage entkontextualisierter Zitate aus Medienberichten, einer stümperhaften Interpretation der polizeilichen Kriminalstatistik sowie – vorläufiger Gipfel der Absurdität – „[der] mündliche[n] Äußerung eines renommierten Politikwissenschaftlers gegenüber dem erkennenden Gericht“ (Rn. 59), seinen Schluss vorbereitet: „Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut des inkriminierten Wahlplakats des Klägers ‚Migration tötet‘ nicht als volksverhetzend zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten“ (Rn. 56). Das Wort „töten“ könne sich (auf einmal, ist man angesichts der oben genannten Definition des Gerichts geneigt zu sagen) zumal auch auf den zu befürchtenden „Tod der westeuropäischen und deutschen Kultur“ (Rn. 51) beziehen.
Das Schlimmste kommt zum Schluss: Migration und Menschenverachtung
Wenig später heißt es dann, „dass Migration durchaus etwas mit Tod und ihrerseits mit Menschenverachtung zu tun haben kann“ (Rn. 58). Eine haltlose pauschale Verknüpfung von Migration und Menschenverachtung, die an der Identifikation des Gerichts mit Art. 1 GG und Art. 3 GG ein weiteres Mal zweifeln lässt. Zudem ließe sich Menschenverachtung auch nicht mit Menschenverachtung aufwiegen.
Im Ergebnis steht für das Gericht fest: Die beklagte Gemeinde führe sich durch die Beseitigungsverfügung selbst „diktatorisch“ auf. Die Begründung: Sie versuche, „von ihr nicht gewünschte Ausdrucksformen zu unterbinden“. Politik lebe aber von Auseinandersetzung in „einer Art Hegelscher Dialektik“ (alle drei Zitate Rn. 63), wie der Richter nun unter Rekurs auf eine obskure Philosophiewebseite feststellt.
Eine reale Gefahr
Rechte und Rechtswissenschaft, das ist ein großes Problem, wenn es, wie von Andreas Fischer-Lescano gezeigt, um die Apologie rechtsextremer Reden in wissenschaftlichen Kontexten geht. Mindestens genauso schwer wiegt es, wenn sich rechtsextreme Gesinnung in Gerichten Bahn bricht.
Die Selbstverständlichkeit, mit der sich ein deutscher Richter rechtsextremer Argumente bedient, um einen Tatsachengehalt der Aussage, Migration töte, zu konstruieren, erschreckt. Erschreckend sind auch die Selbstgefälligkeit und Maßlosigkeit, mit der historische, philosophische und politiktheoretische Begriffe und Sachverhalte zu einem rechtspopulistischen Pamphlet vermischt werden.
Das Urteil versteigt sich in einer Passage zu Salafismus zu der Aussage „eine reale Gefahr (hier: für den Bestand des deutschen Staates, LK) zu negieren hieße, die Augen vor der Realität zu verschließen“ (Rn. 55). Diese Aussage stimmt – allerdings in Bezug auf das Gericht selbst: Der Einzug rechtsextremer Argumente, Symbolik und Sprache in die Rechtsprechung ist eine Entwicklung, der von Seiten des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes im konkreten Fall juristisch, aber auch generell dienstrechtlich und im öffentlichen Diskurs entgegengewirkt werden muss.