Ist Negationismus eine Form der Fortsetzung des Völkermordes?

“To forget the victims means to kill them a second time” – Elie Wiesel

Am 24. April 2019 bewertete der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Deportationen von Armenier*innen als „zu den zeitlichen Umständen angemessen“ (most reasonable action). Schon seit mehr als hundert Jahren wird der Völkermord an den Armenier*innen und den anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reiches nicht anerkannt, unablässig relativiert, verharmlost, gerechtfertigt und jeder Anerkennungsversuch innerhalb der Türkischen Republik strafrechtlich verfolgt. So wurde der armenisch-stämmige Journalist Firat (Hrant) Dink wegen der Beleidigung des Türkentums (Türklük) durch die Hervorhebung des Völkermordes an den Armenier*innen verurteilt  (Anerkennung). Der Schuldspruch machte ihn zum Ziel von Ultranationalist*innen, die ihn schließlich ermordeten. Der Europäische Gerichthof für Menschenrechte stellte später fest, dass die Tötung eine Verletzung der Meinungsfreiheit von Firat Dink gewesen ist (siehe EGMR, Dink v. Türkei, 14 Dezember 2010, §§ 137-139, ähnlich EGMR, Akcam v. Türkei, 25. Oktober 2012). In einem anderen Fall wurde der Politiker Doğu Perinçek in der Schweiz wegen der Leugnung des Völkermordes zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Gerichtshof befand aber, dass die Aussage des Politikers keine nachgewiesenen Auswirkungen auf das politische Leben der türkischen und armenischen Minderheiten in der Schweiz hatte, infolge dessen es nicht hätte bestraft werden dürfen (siehe EGMR, Perincek v. Schweiz, 15. Oktober 2015, §§244-248).

Hinter den beiden Fällen gibt es eine strikte Politik des Negationismus. Der Journalist Firat (Hrant) Dink wurde im Rahmen der Leugnungspolitik wegen seiner Aussage bzw. Anerkennung des Völkermords bestraft und wurde zum Tötungsziel. Die Anerkennung des Völkermords wurde also sanktioniert. Gleichzeitig versuchte der Politiker Doğu Perinçek die Leugnung des Völkermordes als Meinungsfreiheit darzustellen- und hatte damit vor dem EGMR leider Erfolg. Durch diesen Beitrag wird untersucht, ob der Negationismus (Leugnung) des Völkermordes als eine Art der Fortsetzung des Völkermordes betrachtet werden kann.

Leugnung vs. Anerkennung

Die Begriffe „Leugnung“ und „Anerkennung“ stehen einander widersprüchlich gegenüber. Eine Leugnung behauptet, dass ein Völkermord nicht stattgefunden habe, eine Anerkennung behauptet das Gegenteil. Beide können von der Meinungsfreiheit umfasst sein. Je nach politischem Kontext kann entweder die Anerkennung eines Völkermords oder seine Leugnung nach den geltenden Gesetzen den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Dabei verliert eine Aussage dann den Schutz der Meinungsfreiheit als allgemeines Menschenrecht, wenn die Grenzen der Tatsachenbehauptung in der Form von bewusst oder erwiesen unwahrer Information berührt werden (vgl. BVerfGE 90, 241, BGH 1 StR 179/93, BGHZ 50, 133). Durch die Verharmlosung oder Verleugnung von Tatsachen in Verbindung mit einem Völkermord, der das Rechtsgut des Allgemeininteresses an einem friedlichen Zusammenleben bedroht, wird die Opfereigenschaft nicht nur der jeweiligen Opfer, sondern auch der ganzen nationalen, ethnischen und religiösen Gruppe negiert. Daraus resultiert eine doppelte Viktimisierung der betroffenen Gruppe, einerseits wegen des Verbrechens per se, andererseits wegen der Verletzung der Menschenwürde der Überlebenden und der Verstorbenen (vermittelt durch den postmortalen Persönlichkeitsschutz, vgl. Art. 17 IPbpR, Art. 8 EMRK, siehe auch EGMR, Johansen v. Norwegen, 7. August 1997, §52, EGMR, Janowiec et al. v. Russland (Katyn), 21. Oktober 2013, §212).

 

Leugnung als Schuldabwehr

Die Verharmlosung und Rechtfertigung des Verbrechens sind Reaktionen der Schuldabwehr. Im strafrechtlichen Kontext gilt: Bekennt der*die Täter*in seine Schuld nicht, wird sie durch Gerichtsurteil festgestellt. Juristisch ist es (zumindest an dieser Stelle, also bei der Beantwortung der Schuldfrage) weniger relevant, wie der*die Täter*in sich weiterhin verhalten wird. Dem*der Verletzten wird mit dem rechtskräftigen Urteil ein Weg zur Entschädigung eröffnet. Psychologisch bleibt allerdings das fehlende Schuldbekenntnis als Hindernis in den Beziehungen zwischen dem Opfer und dem*der Täter*in bestehen. Dennoch ist der Staat verpflichtet, auch die Entschädigung des Opfers zu initiieren. Im völkerrechtlichen Kontext gibt es zwar den IStGH, der die Kompetenz hat, die Schuld der einzelnen Personen festzustellen. Diese Feststellung hat jedoch keine wesentlichen Konsequenzen, solange der „Täter“-Staat selbst seine „Schuld“ nicht bekennt, denn die Durchsetzung einer Wiedergutmachung zugunsten der Opfer ist keine Verpflichtung für den Staat, sondern liegt in seinem Ermessen. Das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofes hat weniger Einfluss auf die Staaten im Vergleich zu den bindenden nationalen Urteilen, bei denen der Staat auch aktiv für die Implementierung des Urteils mitwirkt.

Man kann Völkermord als Komplex aus verschiedenen Handlungen begreifen, meist durchgeführt durch einen Zusammenschluss von mehreren Personen. So beschreibt Raphael Lemkin in seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ zwei Etappen des Völkermordes, in denen erstens das nationale Bild der unterdrückten Gruppe vernichtet wird und dann das eigene nationale Bild auferlegt wird. Anders gesagt wird der Völkermord zuerst grundlegend vorbereitet, durchgeführt und später verleugnet. Der Leugnungsprozess ist die abschließende Etappe des Verbrechens, wodurch das Gedächtnis und der Zusammenhalt der Gruppe angegriffen werden, um jede Spur der Existenz der Gruppe, u.a. auch durch die Erinnerung an das Verbrechen, zu löschen. Bemerkenswert ist, dass für die Völkergruppen, die Völkermord erlebt haben, die Erinnerung an das Verbrechen Teil ihrer Kultur geworden ist, sodass die Leugnung dieser Kultur wiederum als kultureller Völkermord bezeichnet werden kann.

So beschrieb Firat Dink den armenischen Fall, dass die armenische Diaspora von dem Völkermord geprägt gewesen sei und die Obsession, als Opfer des Völkermordes anerkannt zu werden, zur raison d’êtreder Armenier*ingeworden sei (Dink, Le Turc de l’Arménien, Agos, siehe EGMR, Dink v. Türkei, 14 Dezember 2010, §16).

Völkerstrafrecht vs. Völkerrecht

Die Völkermordskonvention und das Römische Statut sehen den Verleugnungsprozess oder den Begriff „cultural genocide“ nicht als Teil des Verbrechens. Das Verbrechen sieht explizit eine Handlung vor, die zur physischen Zerstörung führt (siehe physische und biologische Zerstörung in Art. II (a)-(e) Völkermordkonvention und Art. 6 (a)-(e) IStGHSt; kulturelle Zerstörung wurde ausgeschlossen).

Aus völker- und menschenrechtlicher Sicht ist die Leugnung nicht nur eine Negation des Geschehens, sondern auch die Beeinträchtigung der äußeren Wahrnehmung der ganzen Gruppe und der jeweiligen Mitglieder, infolge dessen die Menschenwürde der jeweiligen Mitglieder verletzt wird (Art. 3 EMRK). Die erlangte Opfereigenschaft beansprucht die unterschiedlichsten Konsequenzen. Es ist differenziert zu bewerten, ob ein Opfer wegen Völkermordes oder eines Raubes viktimisiert wurde oder es sich um ein Opfer einer epidemischen Krankheit handelt. Dementsprechend befinden sich die Opfer des Holocausts und Verwandte dieser auf einer völlig anderen Ebene als die Opfer einer Straftat nach nationalem Recht (als einer Völkerstraftat). Juristisch ist es natürlich nicht möglich, Vergleiche bei der Opferqualität zu ziehen (i.S.v.: „Wer hat am meisten Schäden erlitten?“), aber die juristischen Konsequenzen in diesem Fall unterscheiden sich enorm.

Seit der Gründung der Türkischen Republik wurde die Leugnungspolitik fortgesetzt: alle Entschädigungsentscheidungen der Istanbuler Regierung nach dem Ersten Weltkrieg inklusive der Urteile der Istanbuler Verfahren (vgl. Leipziger Verfahren) wurden für null und nichtig erklärt (siehe Dadrian, Akcam, Judgment at Istanbul, 2011 S 265). Die aktuelle Rechtfertigung des türkischen Präsidenten, die Deportationen seien angemessen gewesen, negiert nicht nur die Tatsache, sondern verherrlicht die Völkermörder*innen und unterstützt die Völkermordpolitik der damaligen Regierung.

Abschließend ist festzuhalten, dass aus strafrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Perspektiven der Negationismus kein Teil des Völkermordes ist, da „cultural genocide“ auch während der travaux préparatoires der Konventionen ausgeschlossen wurde. Dadurch hat Negationismus keine strafrechtlichen Konsequenzen, solange es die Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung nicht erfüllt oder ein separater Tatbestand als solches nicht besteht (vgl. französisches Gesetz zur Bekämpfung Leugnung der Existenz gesetzlich anerkannter Völkermorde und die Entscheidung des Verfassungsrates). Aber unter völker- und menschenrechtlichen Aspekten bezeichnet das Phänomen eine Form der Fortführung oder ein Abschließen bzw. Versuch zum Abschließen der Völkermordpolitik, um jede Spur der Existenz der Gruppe und Erinnerung an diese zu löschen. Hiermit wird die Menschenwürde jeweiliger Mitglieder der Gruppe betroffen, was eine Menschenrechtsverletzung bilden kann. Es lässt sich nur hoffen, dass die Straflosigkeit für Völkermörder*innen und die Leugner*innen eigener Taten, wie auch im Falle von Al Bashir, der vor kurzem von seiner eigenen Regierung verhaftet wurde, nicht weiterhin bestehen bleibt.

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