Kosmetische Genitalveränderungen an intergeschlechtlichen Kindern – eine immer noch gängige Praxis

In den letzten Jahren wurden kosmetische Genitalveränderungen an intergeschlechtlichen Kindern immer mehr in der Öffentlichkeit thematisiert. UN-Ausschüsse, Interessenorganisationen, Akademiker*innen versuchten durch Aufklärungsarbeit dieser Praxis der körperlichen Eingriffe an Minderjährigen entgegenzuwirken. Nun analysiert eine neue Studie von Dr. Ulrike Klöppel die Entwicklung der Operationshäufigkeit für die Jahre 2005 bis 2014. Das Ergebnis: Die Annahme, dass kosmetische Genitalveränderungen der Vergangenheit angehören, ist falsch. Das unterstreicht den dringenden legislativen Handlungsbedarf.

Abweichungen von der Norm

Wird ein Kind geboren, drängt sich fast unweigerlich die Frage auf: „Junge oder Mädchen?“ Dass Variationen der Geschlechter auf chromosonaler, hormoneller oder körperlich-anatomischer Ebene möglich sind, war jahrzehntelang nicht bekannt. Als medizinische Antwort auf dieses Phänomen hatte sich der US-amerikanische Sexualforscher John Money in den fünfziger Jahren die sogenannte „Optimal Gender Policy“ ausgedacht: Kinder sollten im Säuglings- oder Kleinkindalter operativ einem der Standardgeschlechter (meist dem weiblichen) zugewiesen werden. Dadurch sollte ihnen ein Aufwachsen in einer „stabilen“ Geschlechtskategorie ermöglicht werden. So sehr dieser Policy der Mief der fünfziger Jahre anhaftet, ist sie leider immer noch aktuell.

Die Eingriffe haben massive körperliche und psychische Folgen. Durch die Entfernung der hormonproduzierenden Keimdrüsen wird eine lebenslange Hormonersatztherapie notwendig, die schwerwiegende physische und psychische Folgen mit sich bringt. Die kosmetischen Operationen erzeugen außerdem oft Unfruchtbarkeit. Wesentlicher Bestandteil der verordneten „Therapie“ war es dabei intergeschlechtlichen Menschen die „Diagnose“ vollständig zu verschweigen. 2011 hat der Verein Intersexuelle Menschen e.V. in Kooperation mit Studierenden und Lehrenden der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte einen Parallelbericht zu den Eingriffen an intergeschlechtlichen Menschen erstellt. Auf Grundlage dieser Schilderungen wertete der UN-Anti-Folter Ausschuss die Operationen als grausame und unmenschliche Behandlungen im Sinne der Konvention und forderte die Bundesregierung zum Handeln auf.

Operative Praxis nach deutschem Recht

Die geschlechtszuweisenden Operationen sind nicht staatlich angewiesen, finden jedoch häufig in staatlich finanzierten Krankenhäusern statt. Aufgrund der jahrzehntelangen Unsichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit sind die Eltern angesichts der Diagnose häufig überfordert und das beratende medizinische Personal selbst wenig sensibilisiert oder sogar nach den Leitlinien der Bundesärztekammer (Eigenname) ausgebildet, die Abweichungen von der Geschlechternorm als dringend behandlungs­bedürftigen Notfall ausweisen. Die Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern finden somit in einem rechtsfreien Raum statt. Existierende Schutznormen wie das Verbot von Sterilisation werden im Fall von Intergeschlechtlichkeit durch Ausnahmeregelungen umgangen. Während der vergleichbare Eingriff der weiblichen Genital“verstümmelung“ 2013 strafrechtlich pönalisiert wurde (§ 226a StGB), fehlt bis heute eine eindeutige Regelung, die die körperlichen und hormonellen Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern verbietet. Aus dem Verantwortlichkeitsvakuum folgt zudem, dass momentan nach deutschem Recht keine Entschädigung für intergeschlechtliche Menschen vorgesehen ist, die ohne ihre Aufklärung und Einwilligung operiert wurden.

So ist es sicher unerlässlich, verstärkt Aufklärung über Intergeschlechtlichkeit zu leisten, wie es die interministerielle Arbeitsgruppe zu „Inter- und Transsexualität“ auf Bundesebene, die seit 2014 zusammenkommt und die Lebenssituation trans- und intergeschlechtlicher Menschen in den Blick nehmen soll, fordert.

Dennoch sind intergeschlechtliche Kinder jedoch weiterhin den privaten Entscheidungen durch Erziehungsberechtigte und medizinisches Personal überlassen. Dass sich das Thema nicht von allein und auch nicht durch Aufklärungsarbeit reguliert, zeigt in aller Deutlichkeit die Studie von Ulrike Klöppel. Aus ihr ergibt sich, dass etwa ein Fünftel der im Krankenhaus aufgenommenen Kinder mit „Variation der Geschlechtsmerkmale“ einer komplexen Genitaloperation unterzogen wurden – und das in einem Alter von 0 bis 10 Jahren.

Bewusste Verstöße gegen internationales Recht

Auf die 2012 veröffentlichte Stellungsnahme des UN-Anti-Folter Ausschusses erfolgten einige Absichtsbekundungen und auch rechtliche Vorstöße. So wurde 2013 auf Initiative von Interessenverbänden hin das Personenstandsrecht geändert, dahingehend dass ein rechtlicher Geschlechtseintrag bei geschlechtlich nicht bestimmbaren Kindern ausbleiben soll. Diese Änderung wird jedoch vielfach kritisiert. Einerseits wird angezweifelt, dass die Regelung Eltern tatsächlich davon abhält einer kosmetische Operation zuzustimmen. Andererseits ist die Regelung an sich weitgehend unbestimmt. Ob eine Lücke im Personenstand wirklich zu Anerkennung führen kann, ist fraglich. Aktuell kämpft eine intergeschlechtliche Person vor dem Bundesverfassungsgericht um die tatsächliche Anerkennung einer „dritten Option“ im Personenstandsrecht.

Deutschland nimmt aufgrund der genitalverändernden Operationen weitere Rügen des UN-Behindertenrechtsausschusses und des UN-Kinderrechtsausschusses von 2015 in Kauf. Hoffnung darauf, dass ein weiteres Festhalten an der bisherigen Politik des „Aussitzens“ auch international nicht mehr zu rechtfertigen ist, gibt die erfreuliche Anzahl von Verurteilungen geschlechtsangleichender Operationen durch den UN-Frauenrechtsausschuss. So rügte der Ausschuss im vergangenen Jahr Frankreich wegen seiner operativen Praxis und sprach in diesem Jahr Empfehlungen für Holland und die Schweiz aus, intergeschlechtlichen Kindern Schutz vor solchen Eingriffen zu gewähren. Im Februar 2017 wird der Ausschuss die Gleichstellungslage in Deutschland in den Blick nehmen. Angesichts der Tatsache, dass selbst die interministerielle Arbeitsgruppe zu „Inter- und Transsexualität“ angibt, dass sich „die Gesamtzahl der Eingriffe nicht signifikant verändert zu haben [scheint]“, ist eine Verurteilung Deutschlands sehr wahrscheinlich. Bleibt nur zu hoffen, dass Deutschland endlich seine internationalen Verpflichtungen und seinen Schutzauftrag ernst nimmt und die Verstümmelungen an Kindern beendet!

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