Ein Blick auf das jüngste Urteil des EGMR zu Artikel 4 EMRK
2010 stellte der EGMR (Europäische Gerichtshof für Menschenrechte) fest, dass Artikel 4 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention), Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, auch das Verbot des Menschenhandels enthält. Dennoch bleiben bis heute zahlreiche Fragen bezüglich der positiven Pflichten, die sich aus Artikel 4 EMRK für die Vertragsstaaten ergeben, offen. In der Sache L.E. v. Greece befasste sich der EGMR mit dieser Thematik. Die Aussagen und Ansichten einer NGO spielten bei der Urteilsfindung eine entscheidende Rolle.
Angesichts der vielen Entscheidungen des EGMR, ist die Anzahl jener Urteile, die die Auslegung und Anwendung des Art. 4 EMRK auf Fälle von Menschenhandel zum Inhalt haben, erstaunlich gering. Zahlreiche Studien und Erhebungen zeigen, dass Migrant_innen in einer Vielzahl von Fällen und auf unterschiedlichste Weise in Folge von Menschenhandel in die Zwangsarbeit gezwungen werden. Wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind, ist aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden und der hohen Dunkelziffer schwer anzugeben. Eine vielbeachtete Studie der International Labor Organisation (ILO) aus dem Jahr 2005 spricht von mindestens 2,45 Millionen Opfern, der Jahresbericht 2013 der USA gar von 26 Millionen. In Anbetracht dieser Zahlen ist es erschreckend, dass bis dato lediglich fünf Urteile den Missbrauch Nicht-staatlicher-Akteure im Sinne des Artikel 4 EMRK thematisierten. Gleichzeitig ein weiterer Beleg, dass Opfer von Menschenhandel in der Theorie zwar Rechte haben, sie diese faktisch aber nicht in Anspruch nehmen können. Am 21. Januar 2016 erschien nun das sechste Urteil des EGMR. Verhandelt wurde in der Sache L.E. versus Griechenland.
Die Klägerin nigerianischer Staatsangehörigkeit L.E. reiste 2004 gemeinsam mit K.A. in Griechenland ein. Dieser soll L.E. versprochen haben, sie nach Griechenland zu bringen, um dort in Bars und Nachtclubs zu arbeiten. Als Gegenleistung versprach sie 40.000 € zu zahlen und der Polizei keinerlei Informationen über K.A.s Machenschaften zu geben. Angekommen in Griechenland nahm K.A. den Reisepass der Klägerin an sich und zwang sie für etwa zwei Jahre zur Prostitution. In dieser Zeit wurde L.E. mehrfach wegen Verstößen gegen das Prostitutionsgesetz und die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften festgenommen. Alle Verfahren endeten mit einem Freispruch.
Am 22. November 2006 wurde L.E. schließlich in Abschiebegewahrsam genommen. Von dort aus reichte sie Klage gegen K.A. und seine Partnerin D.J. ein. Darin beschuldigte L.E. K.A. und D.J., sie und zwei weitere Nigerianerinnen in die Prostitution gezwungen zu haben. Zudem machte sie geltend, dass sie Opfer des Menschenhandels geworden sei. Die Klage wurde unterstützt durch die Nea Zoi, einer NGO, die Personen, die in die Prostitution gezwungen wurden, materiellen und psychologischen Beistand leistet.
Der Staatsanwalt des Athener Strafgerichts lehnte die Klage mit der Begründung ab, dass nicht hinreichend Anhaltspunkte vorlägen, die auf Menschenhandel hinweisen. Im Januar 2007 beantragte L.E. die Wiederaufnahme des Verfahrens, da bedeutende Beweismittel, insbesondere die Zeugenaussage durch Nea Zoi, nicht berücksichtig worden waren. In Reaktion leitete der Staatsanwalt Ermittlungen gegen K.A. und D.J. ein. Die Abschiebung der Klägerin wurde daraufhin vorläufig verhindert.
Das Strafverfahren führte zur Festnahme von D.J., die jedoch für nicht schuldig befunden wurde. Sie soll vielmehr ein weiteres Opfer des K.A. gewesen sein als dessen Komplizin. Die Handlungen des K.A. wurden nicht strafrechtlich verfolgt, da er nicht ausfindig gemacht werden konnte.
Die Beschwerde vor dem EGMR
Der EGMR stellt in seiner Entscheidung vom 21. Januar 2016 fest, dass der griechische Staat seinen positiven Pflichten aus Artikel 4, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 13 EMRK nicht gerecht geworden ist.
Zwar sei der Tatbestand des Menschenhandels in Artikel 351 des griechischen Strafgesetzbuchs entsprechend dem Palermo-Protokoll definiert, sodass Griechenland der Pönalisierungspflicht hinreichend nachgekommen sei. Jedoch umfassen die positiven Pflichten aus Artikel 4 EMRK auch die Um- und Durchsetzung administrativer und operativer Maßnahmen zum Schutze des Opfers sowie die Garantie effektiver Ermittlungen bei einer potentiellen Verletzung des Artikel 4 EMRK. Beides konnte Griechenland hier nicht vorweisen.
Der Schutz für L.E. sei nicht angemessenen gewesen, da die Abschiebung der Klägerin erst mit Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens aufgeschoben wurde. Auch dauerte es etwa neun Monate, bis ihr mit Beginn des Verfahrens gegen K.A. und D.J. offiziell der Status als Opfer von Menschenhandel zuerkannt wurde. Diese Dauer von neun Monaten sei in Anbetracht der Tatsachen, dass das Statement von Nea Zoi zunächst nicht beachtet wurde, nicht angemessen. Die Verzögerung im Verfahren habe schließlich auch dazu geführt, dass Griechenland die erforderlichen Maßnahmen zum Schutze der L.E. nicht ergriffen hat. Dass die Aussage von Nea Zoi aufgrund eines Versehens der Polizei nicht herangezogen wurde, ist dabei keine hinreichende Erklärung. Auch nach Nachreichung des Dokuments seien keine Ermittlungen aufgenommen worden. Vielmehr musste dies von der Klägerin selbst beantragt werden.
Das Ermittlungsverfahren in der hiesigen Sache befand der EGMR als ineffektiv, da bei dem Versuch K.A. ausfindig zu machen lediglich ein Standort von dreien überprüft wurde, den die Klägerin in Bezug auf K.A. nannte. Als dieser dort nicht anzufinden war, stellte die Polizei keine weiteren Bestrebungen an K.A. zu finden sondern ihn in das Register gefahndeter Personen aufzunehmen.
Neben der Verletzung des Artikel 4 EMRK sah der EGMR aufgrund der unverhältnismäßigen Länge des Verfahrens – welches von Januar 2007 bis zum Urteilspruch im April 2012 dauerte – auch Artikel 6 Absatz 1 verletzt. Da Artikel 13 EMRK auch einen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren im Sinne des Artikel 6 Absatz 1 EMRK garantiert und diese Verletzung vorliegend anerkannt wurde, ist auch eine Verletzung des Artikel 13 EMRK gegeben.
Die Bedeutung des Urteils
Die Entscheidung im Falle L.E. versus Griechenland ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege der strukturellen Bekämpfung des Menschenhandels. Als sechstes Urteil in einer Reihe von Fällen, die eine Verletzung des Artikel 4 EMRK zum Inhalt hatten, wurden nun erneut und in besonderer Intensität die positiven Pflichten, die sich für die Vertragsstaaten aus Artikel 4 EMRK ergeben, in Augenschein genommen und konkretisiert.
Im gleichen Zuge wurde die Frage nach der Rolle einer NGO im Ermittlungsverfahren der Polizei diskutiert. Eine Frage, die auch für den deutschen Rechtsraum von besonderem Interesse ist. Denn auch hier ist umstritten, wer die Identifizierung eines Opfers des Menschenhandels vornehmen darf und welches Gewicht der Aussage einer NGO wie den Opferberatungsstellen dabei zukommt. Als Beispiel für eine starke Einbindung von NGOs kann hier der Runderlass des Bundeslandes Niedersachsen zum Schutz von Betroffenen des auf sexuelle Ausbeutung gerichteten Menschenhandels gelten. Nach Nr. 3.2. dieses Runderlasses sind Fachberatungsstellen befugt, im Einvernehmen mit den Betroffenen in Austausch mit Ausländerbehörden zu treten. Sie können hier Anhaltspunkte für das Vorliegen von Menschenhandel bezeugen, wodurch den Ausländerbehörden ermöglicht wird, die Bedenkfrist nach § 59 Absatz 7 AufenthG zugewähren. Durch das Urteil des EGMR dürfte also auch die Diskussion um die Rolle von Fach- und Beratungsstellen bei der faktischen Durchsetzung der Rechte von Opfern von Menschenhandel neues Fahrwasser erhalten haben.