Der Bundesgerichtshof hat in einem Beschluss vom 22. April 2020 (Az. XII ZB 383/19) einer Person, die sich keinem Geschlecht zuordnet, die Streichung ihres Geschlechtseintrages über den Weg des Personenstandsgesetzes verweigert. Der antragstellenden Person stünde aufgrund ihrer „lediglich empfundenen Intersexualität“ nur der Weg über das sogenannte Transsexuellengesetz in analoger Anwendung offen. Die Streichung oder Änderung des Geschlechtseintrages über den §45b PStG können demnach nur Personen nutzen, die aufgrund körperlicher Merkmale nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können.
Der §45b PStG wurde Ende 2018 in Reaktion auf das Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Dritten Option neu geschaffen und erlaubt es Personen mit einer „Variante der Geschlechtsentwicklung“, den Geschlechtseintrag durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung zu ändern oder streichen zu lassen. Der BGH nahm an, dass bei der beschwerdeführenden Person keine Variante der Geschlechtsentwicklung vorliege und verwies sie auf ein Verfahren in analoger Anwendung des sogenannten Transsexuellengesetzes. Damit führt der Bundesgerichtshof eine unzulässige Unterscheidung zwischen verschiedenen Geschlechtern ein, je nachdem wie die Körper der Personen ausgestaltet sind. Die Argumentation des BGH beruht auf einem vermeintlich biologischen Verständnis von Geschlecht, das dem Stand der Wissenschaft in der Medizin, Psychologie und Geschlechterforschung widerspricht und den verfassungsrechtlichen Kern verfehlt.
„Varianten der Geschlechtsentwicklung“?
Dreh- und Angelpunkt der Verwehrung des Wegs über §45b PStG durch den BGH ist die Formulierung „Varianten der Geschlechtsentwicklung“. § 45b Abs. 1 Satz 1 PStG setzt voraus, dass bei der erklärenden Person eine solche Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt. Was genau unter „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ zu verstehen ist, ist strittig.
Vor dem BGH hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf dem Anliegen der klagenden Person stattgegeben und entschieden, dass die Streichung des Geschlechtseintrages vorgenommen werden müsse. Zwar legte die betreffende Person keine ärztliche Bescheinigung vor, die bestätigen würde, dass bei ihr eine Variante der Geschlechtsentwicklung vorliege, das OLG Düsseldorf argumentierte jedoch, dass die von der klagenden Person beschriebene geschlechtliche Zuordnung außerhalb eines binären Systems einem medizinischen Nachweis sowieso nicht zugänglich ist. Es berief sich auf die Menschenwürde i.V.m. dem Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit sowie auf vorangegangene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Geschlechtszugehörigkeit (1 BvR 3295/07 und 1 BvR 2019/16).
Der BGH argumentiert hingegen, dass dem objektiven Willen des Gesetzgebers zu folgen sei und deutliche Hinweise dafür vorlägen, dass dieser unter „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ ausschließlich Menschen verstehe, die sich körperlich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen ließen (Rn. 26).
Das Geschlecht im Personenstandsgesetz
Um seine Argumentation zu stützen, führt der BGH weiter an, dass das gesamte Personenstandsgesetz an das biologische Geschlecht anknüpfe (eigene Hervorhebung, Rn. 25). Der BGH erkennt in seinem Urteil zwar an, dass das Bundesverfassungsgericht sich in seiner Entscheidung zur Dritten Option auf die wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis stützt, dass „die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Geschlecht nicht allein nach den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen im Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt werden kann, sondern sie wesentlich auch von seiner psychischen Konstitution und selbstempfundenen Geschlechtlichkeit abhängt“ (Rn. 30). Das Bundesverfassungsgericht erklärt weiter, dass für die Bestimmung und Festlegung des Geschlechts die subjektive Selbstzuordnung entscheidend sei (Rn. 42). Es fordert für Betroffene einen dem Selbstverständnis der Person gemäßen Geschlechtseintrag (Rn. 48) und führt aus: „Verlangt das Personenstandsrecht einen Geschlechtseintrag, verwehrt es einer Person aber zugleich die personenstandsrechtliche Anerkennung ihrer Identität, ist die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit dieser Person spezifisch gefährdet“ (Rn. 44). Hier wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, Geschlecht sei die subjektive Selbstzuordnung der Person zu einem Geschlecht, nicht die biologische Klassifikation. Der BGH geht aber dennoch davon aus, dass das Personenstandsgesetz an das biologische Geschlecht anknüpfe und steht mit dieser Auffassung also im Widerspruch zu der des Bundesverfassungsgerichts.
Ein biologisches Geschlecht?
Es stellt sich die Frage, was das biologische Geschlecht, aus das sich der BGH bezieht, eigentlich sein soll. In den psychosozialen Wissenschaften und auch in der Medizin werden weitaus komplexere Verständnisse von Geschlecht vertreten, als die binäre Einteilung in „männlich“ und „weiblich“. So wird anerkannt, dass für die Geschlechtszuordnung eine Reihe von Faktoren relevant sind und eine Reduzierung auf die binären biologischen Kategorien kritikwürdig ist. Unter anderem spielen eben auch psychosoziale Faktoren und insbesondere das subjektive Geschlechtsempfinden bei der Geschlechtszuordnung eine Rolle. In den Geschlechterstudien wird außerdem darauf hingewiesen, dass eine binäre biologisch-medizinische Klassifikation, obwohl sie auf einer scheinbar neutralen Grundlage beruht, sozial konstruiert ist. Einerseits wirken sich soziale und kulturelle Praxen auf die physiologischen Merkmale aus und verändern diese, beispielsweise indem unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen an körperliche Fitness oder die Ernährungsweise existieren. Andererseits wird davon ausgegangen, dass Behauptungen über das biologische Geschlecht bereits Annahmen über das soziale Geschlecht enthalten, dass also auch das sogenannte biologische Geschlecht sozial konstruiert ist. Dementsprechend sind auch in einer für solche Einflüsse sensiblen Forschung in den medizinisch-biologischen Wissenschaften mehrere Geschlechter denkbar. Wenn sich das Personenstandsgesetz also am Stand der Wissenschaft orientiert, kann eine rein somatisch begründete Geschlechtlichkeit nicht mehr den Ausschlag geben. Vielmehr sollte der personenstandsrechtliche Geschlechtseintrag an die subjektive Selbstzuordnung der Person gebunden sein.
Ungleichbehandlung von dyadischen Transpersonen und Intergeschlechtlichen Personen
Der BGH geht in seinem Urteil auch darauf ein, ob die Ungleichbehandlung von dyadischen Transpersonen und intergeschlechtlichen Personen bei der Änderung des Geschlechtseintrages zulässig ist. Nach Ansicht des BGH sollen nur Personen, deren körperliche Merkmale in einer binären Lesart weder dem männlichen noch dem weiblichen biologischen Geschlecht zuzuordnen sind, ihren Geschlechtseintrag durch eine Erklärung und die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nach § 45b Abs. 1, 3 PStG ändern lassen können; ihnen steht dabei neben „männlich“ und „weiblich“ auch der Eintrag „divers“ oder eine Freilassung offen. Personen ohne eine solche Diagnose können eine Änderung oder Streichung demnach nur über das TSG erreichen. Dieses fordert jedoch von den Betroffenen zwei ärztliche Gutachten und geht mit einem komplizierten und in der Praxis oft diskriminierenden Prozess der Begutachtung einher. Bei der Unterscheidung dieser beiden Wege verwendet der BGH die im Titel aufgegriffene Formulierung der „lediglich empfundenen Intersexualität“. Diese Formulierung wurde vom Bundesverband Trans und der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität zu recht heftig kritisiert, denn das Geschlecht ist kein Gefühl und darf auch nicht als solches rechtlich gefasst werden. Der BGH begründet die Ungleichbehandlung damit, dass bei Intersexualität körperliche Merkmale vorlägen, die eine Zuordnung in ein binäres Geschlechtersystem verunmöglichen. Transpersonen, gemeint sind wohl dyadische Transpersonen, ließen sich hingegen anhand ihrer physischen Geschlechtsmerkmale eindeutig einem Geschlecht zuordnen, obwohl ihre Geschlechtsidentität diesem nicht entspricht (Rn. 48). Es lägen also gänzlich andere biologische Voraussetzungen vor. Der Punkt ist: Das ist nicht der Punkt. Zum einen ist bereits das biologische Geschlecht komplexer, als der BGH es annimmt. Zum anderen stellt das Grundgesetz gerade nicht auf den Körper ab, sondern schützt mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG die geschlechtliche Identität. Daher dürfen für die Feststellung des Geschlechts, auch im Personenstandsgesetz, die somatischen Merkmale nicht entscheidend sein. Es kann nicht grundsätzlich automatisch aufgrund des Vorliegens bestimmter physischer Merkmale auf ein Geschlecht geschlossen werden. Die im wesentlichen unterschiedliche Ausgangssituation von dyadischen Trans- und Interpersonen, von der der BGH in seinem Urteil ausgeht, liegt also für die Frage der Personenstandsänderung nicht vor und die unterschiedlichen somatischen Voraussetzungen sind nicht relevant. Vielmehr sind Interpersonen und dyadische Transpersonen, die im Laufe ihres Lebens ihren Geschlechtseintrag ändern wollen, in derselben Ausgangssituation. Denn in beiden Fällen ist im Geburtenregister ein falsches Geschlecht eingetragen. Es gibt zwar tatsächlich Unterschiede zwischen Menschen mit intergeschlechtlichen Körpern und solchen ohne. Inter*Kinder sind nämlich immer noch Zwangsoperationen ausgesetzt. Das muss endlich aufhören! Für die Anerkennung des Geschlechts im Personenstandsrecht ist diese Unterscheidung jedoch ohne Belang. In einer nach binären Geschlechtsmustern geordneten Gesellschaft befinden sich alle Personen, deren Geschlecht im Laufe ihres Lebens von dem bei Geburt eingetragenen Geschlecht abweicht, in einer vergleichbaren Situation. Das ist der entscheidende Punkt. Der Prozess der Richtigstellung des Geschlechtseintrags muss für alle Menschen unabhängig von ihren körperlichen Merkmalen gleich einfach sein.
Grundrechtsschutz gewährleisten
Es bleibt zu fordern, dass das Personenstandsrecht umfassend reformiert wird, sodass es über die jetzige Minimallösung hinausgeht. Es ist an der Zeit für eine umfassende, verfassungskonforme Neuregelung der Anerkennung aller Geschlechter. Es muss allen Menschen unabhängig von der körperlichen Konstitution möglich sein, ohne die Einmischung Dritter einen ihrem Geschlecht gemäßen Eintrag zu erlangen. Dies ist durch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet, die die geschlechtliche Identität schützen. Bereits jetzt. Solange die Legislative nicht tätig wird, müssen zumindest die Gerichte die Grundrechte der Betroffenen schützen. Eine von der antragstellenden Person ungewollte analoge Anwendung des Transsexuellengesetzes konterkariert diesen gebotenen Grundrechtsschutz.