Die Probleme in der Altenpflege treten in der Covid19-Pandemie besonders stark hervor. Sie betreffen vor allem die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals, ihre Schutzrechte und ihre Vergütung. Letzteres soll sich jetzt für (qualifizierte) Pflegehilfskräfte und Pflegefachkräfte verbessern. Die Erhöhung des Pflegemindestlohns soll ein Zeichen der Anerkennung der Pflege als wichtige Tätigkeit sein. 1,2 Mio Pflegekräfte werden von der Neuregelung profitieren. Doch ein wichtiger Bereich wird in der Regelung einfach ausgeschlossen, die privaten Haushalte, in denen vor allem Frauen aus Mittel- und Osteuropa arbeiten. Ist ihre Pflegeleistung weniger wert?
Der neue Pflegemindestlohn für (qualifizierte) Pflegehilfskräfte und Pflegefachkräfte
Ende Januar hat die Regierung die Vierte Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche beschlossen, so wie sie von der Pflegekommission ausgearbeitet wurde. Am 22.04.2020 hat auch das Bundeskabinett Kenntnis von ihr erhalten. Damit dürfte der Pflegemindestlohn unter Dach und Fach sein. Die Verordnung sieht höhere Mindestlöhne für Altenpflegekräfte vor. Neu ist, dass der Pflegemindestlohn künftig auch für die Pflegehilfskräfte und Pflegefachkräfte gelten soll. Von den Ministern wurde bei der Verkündung der Neuerungen immer wieder betont, dass es sich hierbei um einen Mindestlohn handelt. Es soll sich also um das minimale Stundengehalt handeln und nicht um das durchschnittliche. Nach Minister Spahn soll diese Neuerung ein „starkes Signal(s) für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der (Alten-)Pflege“ setzen. Ein Signal deshalb, weil weiterhin ein branchenübergreifender Tarifvertrag angestrebt wird, womit die Hoffnung eines weiterhin steigenden Gehalts dieser Berufsgruppen verbunden ist. An einer der (Pflege-)Baustellen wird also gearbeitet.
Kein Pflegemindestlohn für die häusliche Betreuung
Man sollte jedoch einen genaueren Blick darauf werfen, wie die Bundesregierung versucht die Probleme in der Altenpflege zu lösen. Bei der Verkündung der Verordnung wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass 1,2 Mio. Beschäftigte von der Neuregelung profitieren werden. Niemand sagt aber, wer explizit ausgeschlossen wird. Dieser Pflege-Mindestlohn soll nämlich gerade nicht bei Beschäftigungsverhältnissen in Privathaushalten gelten. So soll z.B. für sogenannte Live-Ins – Pflegebetreuer*innen, die mit der pflegebedürftigen Person in einem Haushalt leben und sie betreuen – weiterhin der „normale“ Mindestlohn von derzeit 9,35 € gelten. Je nach Qualifikation kann es im Jahr 2022 einen Unterschied der Vergütung von ca. 3-6 € pro Stunde zwischen den Mindestlohngruppen geben und das obwohl sich die Arbeit in ihrer Arbeitsleistung im Privathaushalt von denen in der stationären oder ambulanten Pflege wohl kaum unterscheidet. Es scheint also eher ein Mindestlohn zu sein, der nicht an der Arbeitsleistung gemessen wird, sondern vom Arbeitsort abhängig ist. Es stellt sich die Frage nach dem „Warum?“. Naheliegend ist, dass die Regierung hier unterstellt, die Leistung in Privathaushalten sei nun doch keine Pflege im herkömmlichen Sinne, sondern irgendetwas anderes. Etwas was sich vielleicht zwischen Arbeit und Ehrenamt qualifizieren ließe.
Zu diesem Schluss kommt man, wenn man sich den Pflegemarkt von Live-Ins genauer anschaut. Die Besonderheit der Live-Ins liegt darin, dass es sich meist um Arbeitnehmer*innen handelt, die über Vermittlungsagenturen aus Mittel- und Osteuropa nach Deutschland kommen. Nach Schätzungen gibt es ca. 300.000 bis 600.000 Live-In-Beschäftige in Deutschland, die meisten sind Frauen. Die Nachfrage und der Markt dieser Art der Beschäftigung ist inzwischen so groß, dass der VHBP– ein Interessenverband von Anbietern und Agenturen der Betreuungsleistungen – von der dritten Säule des deutschen Altenpflegesystems spricht.
Das konservative deutsche Pflegesystem ….
In wenigen Worten erklärt sich die Entwicklung auf dem Pflegemarkt so: Zunächst folgt Deutschland immer noch einem konservativ ausgerichtetem Pflegesystem. Anders als z.B. in den skandinavischen Ländern, kennzeichnet sich dieses dadurch, dass man primär die Familienangehörigen des Pflegebedürftigen in der Verantwortung der Betreuung und Pflege sieht. Aufgrund der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung werden zum Großteil Frauen in die Pflicht genommen, diese Aufgaben zu erledigen. Die familiäre Ausrichtung des Pflegesystems geht daher an der heutigen Arbeitswelt vorbei. So war es früher üblich, dass die Familie eng beieinander gelebt hat, wenn sie sich nicht sogar dieselben Räumlichkeiten geteilt hat. Heute leben Familien in verschiedenen Städten und die Fahrstrecken sind groß. Auch waren Frauen noch nicht in den Maßen in den Arbeitsmarkt integriert, wie sie es heute sind. Waren es ursprünglich also die (Haus-)frauen, die für die Pflege verantwortlich waren, sind diese heute fester Bestandteil der Berufswelt.
…. und seine Folgen
Ein großer Nachteil, der aus diesem konservativen Modell folgt, ist insbesondere der finanzielle Eigenanteil der Familie an der Pflege. Die finanzielle Belastung kann unter Umständen sehr groß sein. Sie unterscheidet sich jedoch danach, ob die Person stationär, ambulant oder durch eine Live-In gepflegt wird. Am „preisgünstigsten“ ist die Pflege durch eine Live-In. Will eine pflegebedürftige Person zu Hause gepflegt werden, kommt neben der ambulanten Pflege das Live-In-Modell in Frage. Dieses wird insbesondere von Vermittlungsagenturen gerne als Rundum-Sorglos-Modell vermarktet. Es ist also die perfekte Lösung für alle Familienmitglieder, die zeitlich nicht selbst die Pflege erbringen können oder wirtschaftlich nicht in der Lage sind eine ambulante Pflege zu finanzieren.
Die Live-In-Pflegkraft soll das Familienmitglied (z.B. die (Schwieger-)Tochter oder den Sohn) ersetzen, das nach dem System ursprünglich für die Pflege vorgesehen war. Bedingt durch das besondere Näheverhältnis in so einer Wohngemeinschaft und durch die ständige Präsenz der Live-In verschwimmt dabei die Grenze zwischen Familie und Pflegekraft.
Auch häusliche Pflegekräfte haben Rechte
Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Unterscheidung zwischen dem normalen Mindestlohn und dem Pflegemindestlohn. Die Live-In wird nicht als „richtige“ Pflegekraft im Sinne einer Pflegefachkraft oder (qualifizierten) Pflegehilfskraft gesehen. Sie wird eher als eine Hilfskraft für die Familie oder als Ersatz für pflegende Angehörige verstanden. Obwohl die Arbeitsleistung, die eine Live-In erbringt sehr viel Umfangreicher ist, als die einer Pflegefachkraft, gerät sie völlig in den Hintergrund. Zu ihren Aufgaben gehört nämlich neben der Pflege auch die komplette Haushaltsführung: Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen, etc. Rund-um-die-Uhr bedeutet außerdem 24 Stunden abrufbereit zu sein – auch nachts über.
Letztlich wird verkannt, dass die Live-In eine Lücke schließt, die aus dem veralteten Modell unseres Pflegesystems resultiert. Während sich die Lebensrealitäten weiterentwickelt haben, geht das Pflegemodell von einer familiären Verantwortungsübernahme aus, die für viele Familien nicht mehr umsetzbar ist. Durch die Duldung des Live-In-System tut der Staat so, als würde es seiner Verpflichtung allen Bürger*innen eine menschenwürdige Pflege zu gewähren, nachkommen. Doch das ist eine Illusion, die auf Kosten von Arbeitsmigrant*innen aufrechterhalten wird.
Eine grundlegende Veränderung des Pflegesystems – und Pflegemindestlohn für alle
Diese Ignoranz für die tatsächlichen Bedürfnisse in der Pflegeleistung wird darin deutlich, dass Live-Ins im „offiziellen“ Pflegesystem entweder ganz ausgeschlossen sind oder wesentlich schlechter gestellt sind. Der Pflege-Mindestlohn ist nur ein Beispiel dafür. Um diese rechtliche Grauzone zu beseitigen, muss es eine grundlegende Veränderung des Pflegesystems geben.
Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber in naher Zukunft endlich die Augen öffnet und sich auch dieser (Pflege-)Baustelle widmet. Ein flächendeckender einheitlicher Pflegemindestlohn sollte unabhängig vom Arbeitsort gelten. Denn wie Minister Spahn treffend gesagt hat, es handelt sich um einen Mindestlohn. Dieser darf nicht vom Arbeitsort abhängen, sondern muss die Arbeitsleistung vergüten. Für die Rechte der Live-Ins setzt sich der DGB mit dem Projekt „faire Mobilität“ ein. Sie bieten ein umfassendes Beratungsangebot in der jeweiligen Muttersprache des Ratsuchenden im ganzen Bundesgebiet an.