Pathologisierung durch das Recht: Zwangsbegutachtung in Personenstandsänderungsverfahren

Wer in Deutschland (und in nahezu allen Ländern Europas) den Geschlechtseintrag auf dem Ausweis und in amtlichen Papieren ändern will, muss sich aufgrund Gesetzes zunächst begutachten und für psychisch „krank“ erklären lassen. Die staatlich aufgezwungene Diagnose stigmatisiert und führt zu Ausgrenzungen. Das am 13.01.2017 erscheinende Working Paper Nr. 11 der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte untersucht die starke Verwobenheit von Recht und Psychiatrie in Europa und kommt zu dem Schluss, dass die Voraussetzung der Begutachtungspflicht Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt.

Verwobenheit von Psychiatrie und Recht

Seit dem 1. Januar 2017 ist Dänemark das erste Land, das Transgeschlechtlichkeit nicht mehr als psychische Erkrankung betrachtet. Die Gesundheitsbehörde des Landes hat es von den einschlägigen Listen gestrichen. Mit dieser Einschätzung befindet sich Dänemark jedoch zurzeit in einer Sonderposition: Noch listet die am meisten genutzte und bekannteste Klassifikation, namentlich die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10), „Transsexualismus“ als Störung der Geschlechtsidentität unter der Ziffer F64.0 im Kapitel der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Eine Überarbeitung der ICD 10 findet zurzeit statt. Dennoch gilt Transgeschlechtlichkeit derzeit noch aus Sicht der WHO als „psychische Störung“, was zu einer Stigmatisierung von Trans*Personen führt und letztendlich in Ausgrenzung mündet.

Eine weitere Dimension erhält die Diskriminierung von Trans*Personen jedoch, wenn man die engmaschige Verwobenheit von Psychiatrie, psychiatrischer Diagnosen und dem geltenden Recht betrachtet. Der Besitz von gültigen und das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität korrekt wiedergebenden Ausweisen bzw. amtlichen Papieren ist für transgeschlechtliche Personen im Alltag notwendig, um das Entstehen von fortlaufend diskriminierenden Situationen zu vermeiden (zum Beispiel bei Passkontrollen am Flughafen). Um den Geschlechtseintrag in Ausweisen oder amtlichen Papieren (oder den Vornamen) entsprechend ändern zu können, fordert die Mehrheit aller Staaten auf dem europäischen Kontinent jedoch psychiatrische Gutachten und das Vorliegen einer Diagnose. Durch diese Verwobenheit von Personenstandsänderungsgesetzen und psychiatrischen Voraussetzungen entsteht der Zwang für Betroffene, sich als psychisch krank diagnostizieren zu lassen, obwohl sie nicht an einer psychischen Erkrankung leiden.

Anforderungen in den europäischen Personenstandsänderungsverfahren

Im Rahmen der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR) und in Kooperation mit Transgender Europe e.V. wurden die Regelungen aller europäischen Staaten zur Änderung des Geschlechtseintrags in amtlichen Papieren in Hinblick auf die Erfordernisse psychiatrischer Diagnosen und Zwangsbegutachtung untersucht und auf ihre Vereinbarkeit mit den in der Europäischen Konvention der Menschenrechte (EMRK) verankerten Rechten überprüft.

Das Paper kommt zu dem Ergebnis, dass sich hinsichtlich der psychiatrischen Voraussetzungen in Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags in Europa Intransparenz, Inkongruenz, Willkür, Fremdbestimmtheit und Abhängigkeit als bestimmende Merkmale ausmachen lassen.

Während in acht von 49 Staaten gar keine Möglichkeit eingeräumt wird, den Geschlechtseintrag in amtlichen Dokumenten zu ändern, sind in 37 Staaten psychiatrische Voraussetzungen zwingend vorgegeben. Im Ergebnis existieren nur in vier der europäischen Staaten (Irland, Dänemark, Malta und Norwegen) Verfahren, bei denen die Änderung des Geschlechtseintrags per Selbsterklärung möglich ist.

In großen Teilen Europas herrscht hinsichtlich der Möglichkeiten, den Geschlechtseintrag zu ändern, Intransparenz, Willkür und Rechtsunsicherheit. Bereits die Art der Regelungen ist höchst unterschiedlicher Natur, die Verfahren selbst sind sehr verschieden ausgestaltet. Nur in einigen Ländern werden die Regelungen durch Gesetz festgeschrieben, in anderen basieren sie auf Rechtsverordnungen oder wurden entweder durch Rechtsprechung oder durch Verwaltungspraxis etabliert oder weisen erhebliche regionale Unterschiede auf. Auch die Ausgestaltung der Verfahren divergiert: Zum Teil sind für Personenstandsänderungen gerichtliche Verfahren vorgesehen, zum Teil muss vor speziellen Gremien ein Antrag gestellt werden. In anderen Ländern hingegen kann die Änderung des Geschlechtseintrages mittels eines einfachen Behördengangs durchgeführt werden.

Auch in Bezug darauf, wie die psychiatrischen Voraussetzungen in die Regelungen Eingang finden, ist keine einheitliche Linie erkennbar. Hier besteht ein besonders großes Einfallstor für willkürliche Einzelfallentscheidungen. So ist der Zwang zur psychiatrischen Begutachtung beispielsweise nur selten explizit in Gesetzen verankert (so z.B. in Island und in der Ukraine), sondern ergibt sich vielerorts implizit aus geforderten Operationen zur körperlichen Geschlechtsangleichung, für welche jedoch wiederum Diagnose und Begutachtung erforderlich sind (so zum Beispiel in Italien und Portugal). Häufig sind die psychiatrischen Voraussetzungen also gar nicht in den Regelungen verankert und nur durch Rechtsprechung und Verwaltungspraxis entwickelt und etabliert worden.

Die jeweiligen Anforderungen an Begutachtung und Diagnose sind von Land zu Land verschieden und reichen von sogenannten „Real Life Tests“, in denen die Person zunächst für einen gewissen Zeitraum nach außen hin im empfundenen Geschlecht leben muss, bis hin zu monatelanger Supervision oder psychiatrischer Therapie. Teilweise wird die Begutachtung durch speziell angelegte Teams, zusammengesetzt aus Expert*innen aus der Psychologie, Endokrinologie, Gynäkologie und Urologie, durchgeführt (z.B. in Irland). Dies ist häufig in nur einer oder wenigen bestimmten Kliniken eines Landes möglich, was zu erheblichen zeitlichen und finanziellen Belastungen bei betroffenen Personen führen kann. Außerdem wird das Verhältnis zu den Begutachtenden sehr häufig als Abhängigkeitsverhältnis erlebt. Den Begutachtenden kommt die Stellung eines „Gatekeepers“ zu, da von ihrem Urteil hinsichtlich der Begutachtung bzw. der Diagnose abhängt, ob eine Person ihren Geschlechtseintrag ändern kann oder nicht. Häufig sind betroffene Personen unsachgemäßen, peinlichen oder entwürdigenden Befragungen oder Behandlungen während des Begutachtungsverfahrens ausgeliefert und sehen sich gezwungen diese zu akzeptieren, um ihr Ziel, die Änderung der amtlichen Dokumente, zu erreichen.

Vereinbarkeit mit Menschenrechten?

Während all jene Staaten, in denen gar keine Regelung zur Änderung des Geschlechtseintrags existiert, schon allein wegen der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten positiven Verpflichtung der Staaten, ein Verfahren zur Personenstandsänderung bereitstellen zu müssen, offensichtlich die EMRK verletzen, zeigte sich, dass die rechtlichen Voraussetzungen der Diagnose einer psychiatrischen Krankheit oder die Pflicht zur psychiatrischen Begutachtung als Voraussetzung für die Änderung des Geschlechtseintrag ebenfalls gegen die EMRK verstoßen.

Die genannten Regelungen verletzen Artikel 8 (Achtung des Privat-und Familienlebens) EMRK, der die freie Bestimmung über die eigene Identität sowie die körperliche und psychische Integrität eines Menschen schützt. In diese wird zum einen durch geforderte psychiatrische Zwangsbehandlung eingegriffen, zum anderen durch das von Seiten des Staates aufgezwungene und sich hieraus ergebende Stigma sowie der sich daraus ableitenden Diskriminierungen. Die erlebten Diskriminierungen führen bei vielen Betroffenen zu psychischer Belastung und können im Ergebnis selbst psychische Krankheiten hervorrufen. Zudem ist es gerade die Abhängigkeit von den psychiatrischen Begutachtenden im Rahmen rechtlicher Prozesse, die die grundlegende Funktion der psychiatrischen Begleitung als freiwilliges Hilfsmittel ins Gegenteil verkehrt und transgeschlechtlichen Personen die Möglichkeit nimmt, über ihre Geschlechtsidentität frei und selbstbestimmt, also ohne äußere Zwänge, zu entscheiden.

Diese weitreichenden Eingriffe in den Schutzbereich von Artikel 8 und seinem Wesensgehalt können durch keine legitimen Ziele gerechtfertigt werden. Sie sind weder erforderlich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, da die Identifikation von Personen, die ihren Geschlechtseintrag ändern lassen, anderweitig, z.B. durch gleichbleibende Identifikationsnummern oder Einträge in Handels- und Strafregister, sichergestellt werden kann. Aus diesem Grunde kann auch die Verhinderung möglicher einzelner Fälle missbräuchlicher Inanspruchnahme der Änderungsverfahren nicht als ausreichender Rechtfertigungsgrund angesehen werden. Auch die in Art. 8 EMRK aufgeführten möglichen Rechtfertigungsgründe des wirtschaftlichen Wohls eines Landes sowie des Schutzes der Gesundheit und Moral können die Voraussetzungen psychischer Diagnosen oder Behandlungen zur Änderung des Geschlechtseintrags nicht rechtfertigen – im Gegenteil: die Begutachtungsverfahren sind häufig kostenintensiv und führen bei den betroffenen Personen zu gesundheitlichen Belastungen.

Daneben bedeuten die Voraussetzungen der psychiatrischen Zwangsbegutachtung oder Therapie eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber allen anderen Personen, die Ausweisdokumente mit einem Geschlechtseintrag, der dem eigenen Geschlecht, bzw. der Geschlechtsidentität entspricht, erhalten können, ohne Begutachtungsverfahren durchlaufen zu müssen. Somit verletzen die entsprechenden Regelungen auch das Diskriminierungsverbot des Artikel 14 (in Verbindung mit Art. 8) EMRK, das sich nach der Rechtsprechung des EGMR auch auf Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtsidentität erstreckt. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles (zum Beispiel bei besonders erniedrigenden Begutachtungspraktiken) kann sogar eine Verletzung des Verbots der erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK in Betracht kommen.

Ausblick

Um im Einklang mit den Vorgaben der EMRK zu stehen, sind daher Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags zu fordern, die auf Selbsterklärung und Selbstbestimmung basieren und schnell, einfach zugänglich, kostengünstig sowie transparent sind. Eine Reform der entsprechenden Regelungen ist somit in zahlreichen europäischen Ländern nicht nur wünschenswert, sondern aus menschenrechtlicher Sicht erforderlich. Dementsprechende Forderungen finden sich auch in zahlreichen internationalen Dokumenten, beispielsweise von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats oder dem Europäischen Parlament.

In Europa sind die Länder Irland, Dänemark, Malta und Norwegen diesen Schritt bereits gegangen. Während in einigen Ländern der Reformbedarf bereits erkannt wurde (zum Beispiel in Großbritannien), bleibt für die übrigen europäischen Länder (einschließlich Deutschland) zu hoffen, dass auch hier eine baldige Reform der entsprechenden Regelungen stattfindet.

Das Workingpaper

Die Ergebnisse der Untersuchung können ab morgen (13.01.2017) im Workingpaper „Psychiatry in Legal gender recognition procedures in Europe“ nachgelesen werden, das auf der Homepage der HLCMR veröffentlicht wird und bei der Abschlussfeier des Zyklus 2015/2016 der HLCMR ausliegen wird, die morgen um 18 Uhr im Senatssaal der Humboldt Universität zu Berlin stattfindet (mit einer Keynote Speech von Dr. Miriam Saage-Maaß vom ECCHR zum Thema „Unternehmen vor Gericht – Globale Kämpfe um Menschenrechte“).

This blog post has been translated into English and can be found on the homepage of Transgender Europe e.V.

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