Der Bundestag diskutierte am 11. Oktober 2018 in erster Lesung den Gesetzentwurf „zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben“ (19/4669). Demnach soll für die Eintragung des Geschlechts neben den bestehenden drei Varianten „weiblich“, „männlich“ und „ohne Angabe“ nunmehr eine vierte Beurkundungsmöglichkeit geschaffen werden: „divers“. Der Kabinettsentwurf ist schon als „Trauerspiel für die geschlechtliche Selbstbestimmung“ (Grüne) und als „verfassungswidrig“ (Aktion Standesamt 2018) kritisiert worden. Die Kritik der trans*- und inter*-Community hat Grietje Baars hier zusammengefasst. Tatsächlich wird mit der Einführung der sogenannten dritten Option der deutlich weniger radikale Weg der beiden vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Alternativen beschritten. Die Entscheidung ist ausführlich hier besprochen worden.
Ob Änderungen des bisherigen Personenstandsrechts gerechtfertigt werden können, soll aber nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Im Folgenden soll vielmehr – umgekehrt – gefragt werden, warum Geschlecht überhaupt als rechtliche Kategorie erfasst wird – und ob die Gründe hierfür eigentlich (noch) tragen.
Die rechtliche Erfassung von „Geschlecht“ als Problem
Ein starres, ausschließlich binäres Geschlechtersystem, das zwei klar unterscheidbare Geschlechtskörper („männlich“ und „weiblich“) voraussetzt, daran jeweils unterschiedliche Geschlechterrollen knüpft und Menschen lebenslang in eine dieser Ausprägungen einordnet, ist angesichts der Vielfalt menschlicher Geschlechtlichkeit schon rein tatsächlich eine allzu starke Vereinfachung. Indem rechtliche Regulierungen an ein solches System anknüpfen, bestätigen sie diese Unterscheidung und verfestigen die Norm Zweigeschlechtlichkeit. Sie erzeugen Ein- und Ausschlüsse und befeuern Anpassungszwänge – bis hin zu geschlechtsangleichenden Operationen bei Kleinkindern. Auch das Recht wird so zu einem Faktor der Konstruktion von Geschlecht. Da die geschlechtliche Zuordnung von zentraler Bedeutung sowohl für das persönliche Selbstverständnis wie auch für das soziale Leben der einzelnen Menschen ist (so ausdrücklich auch das Bundesverfassungsgericht, Rn. 40), müssen rechtliche Regulierungen mit Blick auf „das Geschlecht“ möglichst zurückhaltend und sorgsam mit Vereinfachungen und Kategorisierungen umgehen. Mit Blick auf die durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG, geschützte Selbstbestimmung und das Gleichberechtigungsge- und Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 2, 3 S. 1 GG ist jede Kategorisierung und Festschreibung „des Geschlechts“ durch eine rechtliche Kategorie „Geschlecht“ und finite Ausprägungen wie „männlich“ und „weiblich“ in hohem Maße problematisch und rechtfertigungsbedürftig. Gibt es überhaupt noch rechtliche Gründe, die eine personenstandsrechtliche Festschreibung des Geschlechts rechtfertigen können?
Schwindende Relevanz von Geschlecht im Familien- und Abstammungsrecht
Die Erfassung des Geschlechts war lange ein relevantes Merkmal für die Stellung von Personen innerhalb des Familienrechts und damit notwendiger Teil des Personenstands, § 1 Abs. 1 PStG. Dies betraf insbesondere die Unterscheidbarkeit von Ehe und Lebenspartnerschaft. Seit Einführung der sog. „Ehe für alle“ ist das Geschlecht der beteiligten Personen für das Eingehen einer Ehe jedoch irrelevant. Im Abstammungsrecht ist das Geschlecht zwar noch existent. Die Anerkennung von Rechten für homosexuelle und transidente Menschen sowie die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin haben aber bereits zu einer Diversifizierung der Familienformen und in der Folge zu Verwerfungen im geschlechtsbinären Familienrechtssystems geführt. Weder für die biologische noch für die soziale Zuordnung der Elternschaft ist eine personenstandsrechtliche Erfassung des Geschlechts zwingend erforderlich. Möglich ist hinsichtlich der biologischen Zuordnung insbesondere die unmittelbare Anknüpfung an den (ohnehin letztlich in Bezug genommenen) Fortpflanzungsbeitrag.
Schwindende Relevanz in anderen Rechtsbereichen
Auch in anderen Rechtsbereichen findet sich die Kategorie Geschlecht bislang noch, hat jedoch drastisch an Bedeutung verloren. War das Geschlecht früher von zentraler Bedeutung etwa für das Wahlrecht, Arbeitsverbote und Hausarbeitstage und in jüngerer Zeit für den Zugang zum Dienst mit der Waffe, das Renteneintrittsalter und Versicherungsleistungen, ist die Kategorie Geschlecht mittlerweile von schwindender Bedeutung. Es verbleiben Normen zum Schutz des Intim- und Sexualbereichs, Antidiskriminierungsrecht, Normen zur Identifizierung, Sportrecht, Verfassungsrecht sowie internationale Vorgaben. Nur zum Teil wird hier jedoch überhaupt an das personenstandsrechtlich erfasste Geschlecht angeknüpft. Zwingend notwendig ist eine solche Anknüpfung auch in diesen Fällen nicht.
Die Gründe dafür lassen sich grob in vier Gruppen einordnen:
(1) Da sind zunächst Normen, die ohnehin der Überarbeitung bedürfen. Dazu gehört etwa der Schutz allein weiblicher Minderjähriger vor sittlich gefährdenden Tätigkeiten (§ 1 Abs. 1 und 2 JArbSchSittV). Hier sollte die Anknüpfung an das Geschlecht zugunsten eines umfassenden Jugendschutzes ohnehin vollständig entfallen sollte. Auch Art. 12a GG ist mit seiner strikten Differenzierung zwischen Männern und Frauen jedenfalls reformbedürftig: Menschen ohne oder mit drittem Geschlechtseintrag würden nach derzeitigem Verfassungswortlaut weder zur Wehrpflicht noch zu zivilen Dienstleistungen zur Landesverteidigung verpflichtet werden können. Der Gehalt der Norm ist aber auch mit Blick darauf zu überdenken, dass ihr zufolge Frauen völlig unabhängig von körperlichen Fähigkeiten und Einschränkungen per se schutzwürdig sind – qua Geschlechtszugehörigkeit. Auch das rein binäre Gebot der Trennung der Geschlechter im Strafvollzug (§ 140 Abs. 2 S. 1 StVollzG) wird weder der sozialen noch der rechtlichen Realität gerecht. Zumindest müsste hier auf das sozial gelebte Geschlecht abgestellt, zudem über den Schutz weiterer vulnerabler Gruppen nachgedacht werden.
(2) Teilweise ist die personenstandsrechtliche Erfassung des Geschlechts auch nicht notwendig, weil unmittelbar an andere konkrete Tatsachen angeknüpft werden kann. Dies ist insbesondere dann, wenn transidente Personen betroffen sind, auch zielführender. Dies gilt etwa für geschlechtsbezogene Schutznormen. Ein Beispiel, wie es ohne Geschlecht gehen kann, liefert etwa § 1 Abs. 4 MuSchG: „Dieses Gesetz gilt für jede Person, die schwanger ist, ein Kind geboren hat oder stillt.“ Auch im Rahmen des § 183 StGB kommt es bei exhibitionistischen Handlungen nicht entscheidend auf den männlichen Personenstand an (den auch ein nichtoperierter Transmann haben kann), sondern auf den entblößten Penis.
(3) Insbesondere im Antidiskriminierungsrecht wird die Kategorie Geschlecht verwendet, ohne dass es auf die rechtliche Zuordnung zu einer ihrer Ausprägungen ankommt. In Art. 3 Abs. 3 GG sowie im AGG ist „Geschlecht“ bereits jetzt weiter zu verstehen und keineswegs auf die Ausprägungen „männlich“ und „weiblich“ beschränkt. Zudem bedarf es für einen Schutz vor Diskriminierung aufgrund verpönter Merkmale nicht der vorherigen Festschreibung ebendieser Merkmale. Solange Geschlecht mit seinen Ausprägungen eine relevante Kategorie der sozialen Wirklichkeit bleibt, ist es, auch ohne personenstandsrechtlichen Eintrag, weder „aufgelöst“ noch abgeschafft. Ebenso wie beim Schutz vor rassistischer und homophober Diskriminierung geht es um den Schutz Einzelner vor Nachteilen, die sie als Angehörige einer Gruppe erfahren, der sie aufgrund eines tatsächlich oder vermeintlich vorliegenden Merkmals zugeordnet werden. Entscheidend ist die nachteilige Behandlung wegen ihrer tatsächlichen oder nur vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Personengruppe.
Auch der Grundsatz, dass körperliche Untersuchungen und Durchsuchungen nur von Angehörigen des eigenen Geschlechts oder von Ärzt*innen durchgeführt werden sollen (Art. 1 Abs. 1 GG, einfachrechtlich ausgeprägt in § 81d und §§ 102, 103 StPO), bedarf keines Blickes auf den rechtlichen Personenstand. Insbesondere haben Betroffene ein Wahlrecht (§ 81d Abs. 1 S. 2 StPO).
(4) Schließlich verbleiben vereinzelte Bereiche, in denen noch an bestimmte Ausprägungen des Geschlechts angeknüpft wird. Auch hier spielt die personenstandsrechtliche Erfassung des Geschlechts aber längst nicht immer eine Rolle. Zwingend notwendig ist sie nirgends.
Das Geschlecht ist – auch nach den Richtlinien der International Civil Aviation Organisation (ICAO) – in internationalen Reisedokumenten (nicht aber etwa im Personalausweis) anzugeben, § 4 Abs. 1 Nr. 6 PaßG; der Eintrag richtet sich nach dem Melderegister. Ob dies zur Identifizierung noch nötig ist, scheint zweifelhaft mit Blick auf technisch einfachere und genauere Methoden wie Gesichtserkennung und Biometrik (die selbstredend ebenfalls kritikwürdig sind, aber durch die Beibehaltung der Angabe des Geschlechts kaum aufzuhalten sein dürften). Auch aus den internationalen Vorgaben, die ohnehin die drei Varianten weiblich, männlich und X für „unbestimmt“ zulassen, ergibt sich nicht die Notwendigkeit, das Geschlecht in Deutschland personenstandsrechtlich zu erfassen. Die Eintragung des Geschlechts im (Reise-) Pass könnte auch auf Selbstbezeichnung beruhen – wobei die genannten drei Varianten zur Auswahl stünden. In anderen Ländern ist dies bereits üblich (Kanada, Neuseeland, Nepal).
Die Einordnung nach Selbstbezeichnung wird mittlerweile auch im Sport diskutiert als bessere Alternative etwa gegenüber Testosterontests (etwa hier und hier), nachdem der Rückgriff auf das personenstandsrechtliche Geschlecht bei transidenten und intersexuellen Athlet*innen schon lange nicht mehr als ausreichend angesehen wird.
Frauenförderung: Selbstzuordnung ist vorzugswürdig
Frauenfördermaßnahmen stehen ausdrücklich nur weiblichen Personen offen. Für solche Fördermaßnahmen ist bislang jedoch regelmäßig nicht das personenstandsrechtlich erfasste Geschlecht ausschlaggebend. Menschen fühlen sich vielmehr bereits jetzt von Fördermaßnahmen angesprochen, weil sie sich zugehörig fühlen zur Gruppe der Frauen. Auch ohne personenstandsrechtliche Erfassung werden sich die meisten Menschen weiterhin entweder als Mann oder als Frau identifizieren. Für positive Maßnahmen wegen anderer Diskriminierungsmerkmale kann ohnedies häufig nur an Selbstbezeichnung angeknüpft werden, wenn etwa Personen mit Migrationshintergrund gefördert werden sollen. Warum dies bei der Kategorie „Geschlecht“ problematischer sein sollte, weswegen hier dann eine rechtliche Fixierung der jeweiligen Zugehörigkeit (noch dazu im Personenstandsrecht) erforderlich wäre, erschließt sich nicht.
Die ausschließliche Anknüpfung an die Selbstbezeichnung mag Missbrauchsgefahren bergen: Männer könnten sich als Frauen ausgeben, um ihre Chancen auf bestimmte Förderungen zu erhöhen. Dass diese Gefahr in der Realität besonders groß ist, erscheint jedoch zweifelhaft: Zu rigide sind nach wie vor die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Verschiedenheit der existierenden (zwei) Geschlechtsgruppen. Selbst wenn Männer sich doch als Frauen ausgäben: Die Aufnahme in Netzwerke, die Zulassung zu qualifizierenden Programmen, die Vergabe von Stipendien, Praktika, Ausbildungsplätzen und nicht zuletzt die Einstellung finden sämtlich innerhalb sozialer Räume statt, in denen Menschen sich und andere in der Regel geschlechtlich „lesen“. Innerhalb dieser Räume werden Geschlechtszuschreibungen, die sich nicht mit bisherigen Vorstellungen von „Mann“ und „Frau“ decken, zu Irritationen führen und Nachforschungen nach sich ziehen. Bei einem missbräuchlichen Versuch droht nicht nur soziale Ächtung, sondern folgen je nach Ausgestaltung auch rechtliche Konsequenzen. Die Anknüpfung an das soziale Gelesen-Werden ist mit Blick auf die Gefahr der Verfestigung sozialer Zuschreibungspraktiken zwar ihrerseits nicht unproblematisch. Solange Frauen jedoch tatsächlich strukturell benachteiligt sind, braucht es weiterhin Frauenförderung und Frauenschutzräume. Dafür bedarf es jedoch nicht der personenstandsrechtlichen Erfassung des Geschlechts. Ausreichend ist die Selbstzuschreibung.
Fazit: Geschlecht bleibt rechtlich relevant, auch ohne personenstandsrechtliche Erfassung
Postgender im Recht? Für die Antwort ist zu differenzieren: „Das Geschlecht“ als Kategorie hat auch im Recht noch keineswegs ausgedient, die personenstandsrechtliche Erfassung seiner Ausprägungen hingegen durchaus. Die rechtliche Fixierung finiter Ausprägungen der Kategorie Geschlecht ist ein zu weitgehender und damit unverhältnismäßiger Eingriff. Wo Ausprägungen des Merkmals Geschlecht nach wie vor notwendig erscheinen, muss gelten: Selbstbezeichnung statt Fremdzuschreibung!
Der Beitrag ist zuerst auf dem Verfassungsblog am 11. Oktober 2018 erschienen.