Rehabilitierung der Opfer des § 175 StGB

Eine Rehabilitierung der in der Bundesrepublik nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer* ist verfassungsrechtlich geboten. Zu diesem Ergebnis kommt ein neues Rechtsgutachten im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Kaiserreich und NS

§ 175 der verschiedenen deutschen Strafgesetzbücher stellte von 1872 bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Männern* unter Strafe. Er diente während der Zeit des Nationalsozialismus der polizeilichen Erfassung von 100.000 Männern*. 50.000 wurden verurteilt, 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslagern interniert, über die Hälfte von ihnen wurde ermordet. Unzählige Männer* wurden zudem in psychiatrische Anstalten verwiesen, zwangskastriert oder durch Hormonbehandlungen und Gehirnoperationen missbraucht. Sexuelle Handlungen zwischen Frauen* waren weder strafbar noch scheinen Frauen* spezifisch aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt worden zu sein.

Während es im Kaiserreich und der Weimarer Republik für die Strafbarkeit „beischlafähnlicher Handlungen“ bedurfte, reichten ab der Verschärfung durch die Nationalsozialist_innen 1935 „begehrliche Blicke“ als Vorwand. Darüber hinaus wurde der Strafrahmen drastisch erhöht.

Kontinuitäten nach 1945

In dieser Form übernahm die Bundesrepublik den § 175 StGB und führte die Verfolgung fort. Von 1945 bis 1969 wurden 50.000 Männer* in der Bundesrepublik wegen § 175 StGB verurteilt. Für viele bedeutete eine derartige Verurteilung nicht nur Geld- oder Haftstrafen, sondern ebenso Verlust ihres sozialen Umfelds und ihrer Arbeit.

1969 wurde die Bestrafung der sog. einfachen Homosexualität abgeschafft. Qualifizierte Fälle blieben jedoch strafbewehrt. Als Qualifikation galten auch einvernehmliche sexuelle Handlungen mit Männern* unter der Altersgrenze von 21 Jahren. Für heterosexuelle Handlungen betrug die Grenze 16 Jahre. Aufgrund der diskriminierenden Qualifikationsregelungen wurden bis zu ihrer Abschaffung 1994 weitere 3500 Männer* verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht erklärte sowohl 1957 als auch 1973 (BVerfG, Beschluss vom 2, Oktober 1973, Az. 1 BvL 7/72) die strafrechtliche Verfolgung männlicher* Homosexualität für verfassungskonform.

Eine Rehabilitierung wäre auch auf die in der DDR Verurteilten anwendbar

In der DDR bestand § 175 bis 1968. Allerdings nicht in der von den Nationalsozialist_innen verschärften Form, sondern in der Variante von vor 1935. Von 1968 bis 1988 bestand in der DDR eine diskriminierende Altersgrenze von 18 Jahren, die auch sexuelle Handlungen zwischen Frauen* erfasste.

Zaghafte Schritte Richtung Rehabilitation

Im Jahr 2000 beschloss der Bundestag, dass § 175 StGB die Betroffenen in ihrer Menschenwürde verletzt habe. Männer*, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund von § 175 verfolgt wurden, wurden 2004 durch die Aufhebung ihrer Strafurteile und einen Anspruch auf Entschädigung rehabilitiert. Nicht jedoch jene Männer*, die während der Zeit der Bundesrepublik verurteilt wurden. Der Bundesrat beschloss 2015 eine Empfehlung, die Betroffenen alsbald durch Bundesgesetz zu rehabilitieren. Passiert ist dies bislang nicht.

Rehablitierung als gesetzgeberische Pflicht

In einem Rechtsgutachten zeigt der Münchener Staatsrechtler Prof. Dr. Martin Burgi nun auf, dass eine solche Rehabilitierung nicht ein Akt guten Willens ist, sondern gesetzgeberische Pflicht. Burgi betont, dass es bei Rehabilitierungsmaßnahmen weder um die retrospektive Beurteilung der Verfassungs- oder Europarechtskonformität des § 175 StGB im Zeitraum zwischen 1949 und 1969 geht, noch darum, „die Aufhebung der rechtskräftigen Urteile auf einen eingetretenen Wandel moralischer und sittlicher Auffassungen stützen oder vom bloßen Wechsel politischer Mehrheiten im Bundestag abhängig machen zu wollen“. Verfassungsrechtlicher Prüfgegenstand ist das andauernde Untätigbleiben in der Gegenwart. Dieses stehe im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, Strafmakel zu beseitigen. Ein Strafmakel besteht bei Verurteilungen, die gegen höherrangiges Recht verstoßen, selbst wenn die Verurteilung bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt worden ist. Über diese Schutzpflicht werde bei qualifizierten Verfassungsverstößen und kollektiver, klar abgrenzbarer Betroffenheit auch der Grundsatz der Rechtssicherheit durchbrochen.

Mit dem Rechtsstaat gegen die Rechtsstaatlichkeit

Gerade Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit wurden immer wieder gegen eine Rehabilitierung in Stellung gebracht. Respekt vor den Vorgänger_innen im demokratischen Deutschland und dem Bundesverfassungsgericht sowie der Grundsatz der Gewaltentrennung würden zur Anerkennung und zum Weiterbestand der ergangenen Verurteilungen zwingen. Rechtlich stünden also § 31 BverfGG (Normwiederholungsverbot) und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (Rechtsstaatgebot) einer Rehabilitierung entgegen.

Burgi reagiert darauf mit einer Rückführung der Normen auf ihren eigentlichen Zweck und einer gründlichen Untersuchung der tatsächlichen Gegebenheiten. Der Grundsatz der Gewaltenteilung diene der Kontrolle und Mäßigung der Staatsgewalt. Es sei nicht per se verboten, dass eine Gewalt in die Zuständigkeiten anderer Gewalten eingreift. Vielmehr solle verhindert werden, dass eine Gewalt ein Übergewicht erhalte. Im Fall einer kollektiven Rehabilitierung knüpfe der Gesetzgeber an vom ihm selbst verübtes Unrecht an. Er setze sich gerade nicht an die Stelle der_des Richter_in. In Burgis Verständnis bedeutet Rechtsstaatlichkeit gerade, die Relativität rechtlicher Entscheidungen anzuerkennen.

Burgi verwirft auch das Argument, § 31 BVerfGG verhindere eine Rehabilitierung. Die Vorschrift könne von vornherein nicht herangezogen werden, weil das Bundesverfassungsgericht Homosexualität inzwischen in mehreren Entscheidungen als vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt anerkannt hat. Somit habe es sich von seinen Entscheidungen von 1957 und 1973 distanziert. Eine direktere Abweichung sei dem BVerfG seit der Aufhebung von § 175 StGB nicht mehr möglich. Die veränderte Rechtsprechung müsse daher beachtet werden. Die Argumentation der Bindungswirkung sorge sonst dafür, dass die Betroffenen dafür büßen müssten, dass der Gesetzgeber selbst das Gesetz kassiert hat.

Möglichkeiten der Rehabilitierung

Für die Rehabilitation der Betroffenen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine individuelle Herangehensweise könnte den Betroffenen entweder eine Wiederaufnahme oder eine Erklärung der Verurteilungen als menschenrechtswidrig, ähnlich wie bei rechtsstaatswidrigen Urteilen aus der DDR, verbunden mit einer Aufhebung anbieten. Zudem könnte eine individuelle Entschädigung gewährt werden. Alternativ könnte der Gesetzgeber im Wege einer sogenannten Generalkassation per Gesetz alle Strafurteile aufgeheben. Eine Entschädigungsleistung könnte ebenfalls kollektiv, z.B. an Verbände oder die bundeseigene Magnus-Hirschfeld-Stiftung, geleistet werden.

Nicht nur Rehabilitierung: Aufarbeitung

Burgis Gutachten ist eine Absage an formalistische Begründungen. Burgis Gutachten bietet dafür eine juristische Argumentationshilfe für die Jahrzehnten fällige Rehabilitation, die hoffentlich im Bundestag Anklang findet. Gleichzeitig ist es nicht ausreichend, diejenigen zu rehabilitieren, die wegen „einfacher Homosexualität“ verurteilt wurden. Die höheren Altersgrenzen waren ebenso diskriminierendes, grundrechtsverletzendes Unrecht. Es gilt daher, auch bei zu begrüßenden Entscheidungen kritisch zu bleiben. Wenn Christine Lüders feststellt, § 175 StGB sei „ein beschämender Sonderfall der bundesdeutschen Rechtsgeschichte“, ist das leider nur die halbe Wahrheit. § 175 StGB hat eine lange Tradition- und diese Tradition ist noch nicht Vergangenheit. Dem Gedanken, dass es gefährlich sei, wenn nicht erwachsene Personen nicht-heterosexuelle Sexualität sehen, muss auch heute noch vehement entgegengetreten werden. Nicht zuletzt angesichts des AfD-Parteiprogramms, in dem diese davor warnt, dass „unsere“ Kinder „zum Spielball der sexuellen Neigung einer lauten Minderheit“ werden könnten.

Mit der Stechuhr zu Papa? Alleinerziehende brauchen Unterstützung statt Kürzung
Das Recht, anders zu leben – auch als Arbeitnehmer*in