Reproduktive Selbstbestimmung – ein Grundrecht zweiter Klasse?

Das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung war nie eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in den Vereinigten Staaten baut die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs auf einer Reihe von Kompromissen auf. Doch während die Ampelkoalition sich vorsichtig an eine moderate Liberalisierung des deutschen Abtreibungsrechts wagt, eskaliert die neue, rechtskonservative Mehrheit des US-Amerikanischen Supreme Court mit ihrer Entscheidung zum texanischen Senate Bill 8 – kurz SB8 – diesen jahrzehntelangen Rechtsstreit. Wie steht es um die Zukunft reproduktiver Selbstbestimmung?

Selbstbestimmungsrecht erster und zweiter Klasse

In Roe v Wade (1973) gestand der Supreme Court Schwangeren aus dem Recht auf persönliche Freiheit (14. Zusatzartikel) ein Grundrecht auf Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs zu. Kurz darauf schlugen Konservative und Kirchen Alarm. Sie sahen und sehen bis heute das Lebensrecht des Nasciturus verletzt. Diese Argumentationslinie griff das Bundesverfassungsgericht nur zwei Jahre später auf, als es in Schwangerschaftsabbruch I (BVerfGE 39,1) eine Fristenlösung, also die Straffreiheit eines Abbruchs bis zwölf Wochen und darüber hinaus bei medizinischer Indikation für verfassungswidrig erklärte. Zum einen konstruierte es eine staatliche Schutzpflicht für Embryonen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verlangte vom Staat die Austragung von Schwangerschaften strafrechtlich zu erzwingen. Nur in Fällen der Unzumutbarkeit einer Strafverfolgung, also wenn Gefahren für Leben und Gesundheit der Schwangeren oder eine soziale Notlage vorliegt, kann der Staat auf strafrechtliche Mittel verzichten. Das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren wurde dagegen nur aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitet und folglich deklassiert.

Transatlantische Kurskorrekturen

Beide Entscheidungen sollten nicht lange andauern. Nur 19 Jahre gingen ins Land bis eine neue Mehrheit aus liberalen und moderat konservativen Richter:innen in Planned Parenthood v Casey (1992)das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bestätigte. Jedoch garantierten sie dieses Recht nur bis zur 24. Woche (fetal-viability line) und erlaubten Restriktionen, solange diese die Schwangeren nicht unzumutbar belasten (undue burden standard). Damit lehnte der Supreme Court zentrale Positionen der Pro-Life-Bewegung zwar erneut ab. Der von ihr geforderte Schutz der Leibesfrucht würde das Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung verdrängen. Die neu eröffnete Möglichkeit, Schwangerschaftsabbrüche post-viability zu verbieten und bereits davor einzuschränken, veranlasste aber besonders konservative Bundesstaaten einen oder zwei Schritte weiterzugehen. So wurden Abbrüche in North Carolina nur bis zur 20. Woche erlaubt, sowie Wartezeiten in Ohio und Beratungspflichten in West Virginia eingeführt. Besonders weit reichen die neuen Einschränkungen für Minderjährige. Während kalifornische Teenager selbstbestimmt abtreiben dürfen, benötigen Gleichaltrige in Michigan die Zustimmung eines, in North Dakota beider Elternteile. Mit Whole Woman’s Health v Hellerstedt (2019) wurden einige Einschränkungen zwar kassiert und der undue burden standard gestärkt, doch der weitreichende Schutz von Roe war längst erodiert.

Zur gleichen Zeit beschloss die nun gesamtdeutsche Bundesrepublik ähnliche Änderungen – wenn auch in ganz anderen politischen Umständen. Unter dem Eindruck des deutlich fortschrittlicheren Abtreibungsrechts der DDR und dem Zwang die konfliktgeladenen Regelungen zu harmonisieren, beschloss der Bundestag 1992 abermals eine Reform, die Schwangerschaftsabbrüche vor der 12. Woche und nach einer Pflichtberatung für nicht rechtswidrig erklärte. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese Neuregelung in Schwangerschaftsabbruch II (BVerfGE 88, 203) nach denselben Entscheidungsmustern wie 1975 für verfassungswidrig – erneut gestand es dem Nasciturus das Lebensrecht zu, erneut wurde das Selbstbestimmungsrecht an den Rand gedrängt. Die Gesetzgebung setzte die Anforderungen des BVerfG in den noch bis heute geltenden Regelungen der §§ 218 ff. StGB um, nach denen der Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen straffrei ist.

A right, if you can keep it

Die neue Koalition aus SPD, FDP und Grünen will nun zumindest das sogenannte Werbeverbot in § 219a StGB, welches unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit eingreift, abschaffen. Auch das Bundesverfassungsgericht könnte in der Sache einen offeneren Ton anschlagen. In der Bundesrepublik könnte sich also ein politischer Richtungswechsel anbahnen, womöglich entsteht demnächst sogar ein echtes Recht auf reproduktive Selbstbestimmung. Doch diese Hoffnungen spielen sich vor einem düsteren Hintergrund ab. Denn in den USA entwickelt sich eine immer konservativere, ideologisch aufgeladene Rechtsprechung. Die Mehrheiten, die das Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung jahrzehntelang verteidigt hatten, zerbröckeln. Der Seitenwechsel des konservativen Gerichtspräsidenten, Chief Justice John Roberts, der eine Verschärfung geltender Regelungen aus Sorge um institutionelle Integrität nach Salamitaktik bevorzugte, sollte sofortige Einschränkungen zwar verzögern. Statt Roe explizit auszusetzen, will Roberts lieber den schwächeren Schutz aus Casey wiedereinsetzen und den Staaten erlauben, Zugang zu reproduktiver Gesundheit weiter zu behindern. Doch mit dem Ableben der feministischen Ikone Ruth Bader Ginsburg und der Wahl der erklärten Abtreibungsgegnerin Amy Coney Barrett hat das Gericht seit Ende 2020 die fünf Stimmen um Roe endgültig zu Fall zu bringen. Vor diesem Hintergrund stimmte der texanische Senat nun in großer Eile SB8 zu.

Dieses Gesetz soll Abtreibungen ab der sechsten Woche verbieten, indem es Bürger:innen die Möglichkeit gibt, alle Personen, die bei der Durchführung eines Abbruchs behilflich sind – sei es das medizinische Personal oder einfache Begleitpersonen – zivilrechtlich zu verklagen. Im Gegenzug sollen sie vom texanischen Staat eine Prämie sowie die Erstattung der Verfahrenskosten erhalten. Indem die prozessuale Durchsetzung auf Private – im Gegensatz zu einem staatlich geführten Strafverfahren – ausgelagert wurde, war beabsichtigt, mit Hilfe des 11. Zusatzartikels die Supreme-Court-Rechtsprechung zu umgehen. Dieser verbietet nämlich nach konservativer Lesart (Doktrin der sovereign immunity) Verfassungsbeschwerden auf Bundesebene gegen Landesgesetze wie SB8. Bürger:innen eines Staates dürfen diesen Staat grundsätzlich nicht an Bundesgerichten verklagen. Da eine solche Einschränkung es dem Supreme Court aber verunmöglicht, Gesetze der Staaten nach Bundesverfassungsrecht zu überprüfen, beschloss das Gericht in Ex parte Young (1908) eigentlich, Klagen gegen staatliche Akteur:innen, die verfassungswidrige Gesetze durchsetzen (z.B. Justizminister:innen), zu erlauben. Auf diesem Wege sind indirekt Verfassungsbeschwerden möglich.

Verfassungsrechtlicher Kollateralschaden

In den mündlichen Verhandlungen des Supreme Court zu SB8 schien sich die Roberts-Strategie sowie generelle Angst vor dem SB8-Mechanismus auch bei den Justices Barrett und Kavanaugh durchzusetzen. Denn der SB8-Mechanismus könnte – wie von Justice Sotomayor hypothesiert – auch progressiven Staatsregierungen in Kalifornien oder New York erlauben eher konservative Grundrechte wie das Waffenrecht des 2. Zusatzartikels einzuschränken.  Zudem war gleichzeitig mit Dobbs v Jackson Women’s Health Organization ein Fall aus Alabama anhängig, in dem die Landesregierung Abbrüche nach der 15. Woche verbieten und so das umfassende Selbstbestimmungsrecht aus Roe weiter beschneiden wollte. Die allgemeine Annahme war – eine Mehrheit aus Liberalen und um die Souveränität der Verfassung besorgte Konservative würde SB8 für verfassungswidrig erklären. Später würde eine konservative Mehrheit in Dobbs reproduktive Selbstbestimmung zu einem Grundrecht zweiter Klasse abstufen und weitere Einschränkungen erlauben. Für den Abtreibungsgegner und Institutionalisten Roberts wäre das eine Win-Win-Situation.

Die Rückkehr der Nullifikationsdoktrin

Doch das hat das Gericht nicht getan. Die Klage gegen den texanischen Justizminister und Angestellte der Landesgerichte hielt es für unzulässig und verwies den Fall zurück an das Bundesgericht für den 5. Bezirk. Die SB8-Entscheidung lässt Roe damitformell in Kraft und erlaubt Texas gleichzeitig weiterhin Abtreibungen zu verbieten. Um es mit Roberts‘ Sondervotum zu sagen: „Der klare Sinn und tatsächliche Effekt von SB8 war es, die Rechtsprechung dieses Gerichts zu annullieren“. Das höchste Gericht der USA hat das Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung also (noch) nicht abgeschafft, aber es hat die Staaten „eingeladen den SB8-Mechanismus zu verbessern, um Bundesverfassungsrecht zu annullieren“ (Sotomayors Sondervotum). Damit hat der Supreme Court die Nullifikationsdoktrin, eine Theorie aus Zeiten der Jim-Crow-Gesetze, wiederbelebt.

Die Chance für reproduktive Selbstbestimmung

Eine solche Umgehung von Bundesrecht wäre in Deutschland schlicht undenkbar und sollte uns doch eine Warnung sein – radikale Abtreibungsgegner:innen sind offensichtlich bereit Grundprinzipien des Verfassungsstaates rücksichtslos zu untergraben, um ihre ideologischen Ziele zu erreichen. Diesen Bestrebungen müssen wir mit aller Kraft entgegentreten, denn der Moment ist zu kostbar. Zum ersten Mal in drei Jahrzehnten erleben wir politische Mehrheiten für eine Liberalisierung des Abtreibungsrecht, in der Wissenschaft mehren sich die Stimmen für eine Reform und selbst in dem einen oder anderen klassischen Lehrbuch wird die dogmatische Überzeugungskraft der letzten Karlsruher Entscheidung offen angezweifelt. Es ist Zeit das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung endlich als umfassendes Grundrecht im Sinne von Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu verstehen, es ist Zeit Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren.

Zugang zu sicherer Abtreibung und die Rechtslage zu Schwangerschaftsabbrüchen in Polen und Deutschland
Interview mit Dr. Doris Liebscher - Teil II