Verfassungs­positionen verteidigen: Gedanken zur Debatte um die Vergesell­schaftung von Wohn­eigentum

Die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« hat in den letzten Wochen für einigen öffentlichen Wirbel gesorgt. Die Initiator*innen sammeln aktuell Unterschriften für ein Volksbegehren, mit dem der Berliner Senat dazu aufgefordert werden soll ein Gesetz zu verabschieden, um private Wohnungsgesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, zu vergesellschaften und ihren Grund und Boden in eine Anstalt des öffentlichen Rechts »unter mehrheitlich demokratischer Beteiligung von Stadtgesellschaft und Mieter*innen« zu überführen. Ihr rechtlicher Anknüpfungspunkt ist dabei Art. 15 Grundgesetz, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln ermöglicht. 

Die Debatte um die Forderungen der Berliner Initiative wird mit harten Bandagen geführt. Auf ihrem kommenden Parteitag will sich die FDP als »Partei des Eigentums profilieren«, indem sie wieder einmal die Abschaffung von Art. 15 GG fordert. Zudem erleben die antikommunistischen Ressentiments, die die alte Bundesrepublik prägten, eine Renaissance, wenn zum Beispiel der CDU-Generalsekretär von »Methoden aus der DDR« spricht oder ein Zeitungskolumnist der Welt sich zu dem Spruch hinreißen lässt, »Wer Enteignung sagt, muss auch Gulag sagen.« Ich möchte in diesem Beitrag keine Exegese dazu betreiben, ob die Anliegen der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« im Einzelnen rechtsdogmatisch valide sind. Drei unabhängige Gutachten, die vom Berliner Senat in Auftrag gegeben wurden, kommen überzeugend zum Ergebnis, dass die Vergesellschaftung von Wohneigentum unter bestimmten Umständen verfassungsrechtlich möglich ist, ein Gutachten im Auftrag des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen stellt hingegen die Vereinbarkeit der Sozialisierung mit der Berliner Landesverfassung in Frage. Mir geht es an dieser Stelle darum, dass die Berliner Initiative gerade den verfassungspolitischen Handlungsspielraum für Antworten auf die Wohnungsfrage diskursiv erweitert. Sie knüpft damit an die Tradition der Marburger Staatsrechtsschule um Wolfgang Abendroth und Co. an, die die frühen Diskussionen um die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes prägte. Neben den wohnungspolitischen Implikationen geht es in der aktuellen Debatte gleichsam um die Frage, wie offen die demokratischen Handlungsmöglichkeiten in der Verfassung ausgestaltet sind.

Die Wirtschaftsordnung steht zur demokratischen Disposition

»Das Grundgesetz«, heißt es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1979 zur erweiterten Mitbestimmung der Arbeitnehmer*innen, »enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung. […] Es überläßt dessen Ordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen« (BVerfGE 50, 290 (336f.). Diese Einsicht ist darauf zurückzuführen, dass das Grundgesetz auf einem Kompromiss im Parlamentarischen Rat zwischen politischen Kräften beruhte, die gerade in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung sehr stark auseinandergingen. Im historischen Kontext dieser Zeit war jedoch unter allen Fraktionen das Misstrauen gegenüber großen Unternehmen verbreitet, die das nationalsozialistische Regime unterstützt hatten (Funke, Forum Recht 1999). Die wirtschaftspolitische Verfasstheit des Grundgesetzes oszillierte daher zwischen der Gewährung des privaten Eigentums (Art. 14 GG) und der gleichsam eingeräumten Möglichkeit relevante Wirtschafts- und Produktionsbereiche in Gemeineigentum zu überführen (Art. 15 GG) – daraus ergeben sich durchaus Widersprüche, die sich alleine auf der verfassungsrechtlichen Ebene nicht einseitig auflösen lassen.

Gerade diese wirtschaftspolitische Unentschiedenheit, die sich positiv gewendet als Offenheit erwies, war für den Marburger Staatsrechtler Wolfgang Abendroth Anlass, um nach 1949 als öffentlicher Intellektueller das Sozialstaatsprinzip und die Grundrechte als Teilhaberechte für die Verwirklichung einer sozialen Demokratie zu konturieren. Für Abendroth war das Grundgesetz kein widerspruchsfreier Normtext, sondern ein Verfassungskompromiss unterschiedlicher politischer Kräfte, der die Wirtschaftsordnung »zur Disposition der Gesellschaft [stellt], die sich im demokratischen Staat selbst bestimmt« (Abendroth, Gesammelte Schriften Band 2, S. 343). Für Abendroth, der vor allem an die Arbeiten des Weimarer Staatsrechtslehrers Hermann Heller anknüpfte, war es wichtig, die Wechselbeziehungen zwischen Rechtsstaatlichkeit und sozialer Demokratie zu betonen. Beide Elemente des Grundgesetzes könnten sich nur gemeinsam verwirklichen. Ohnehin war in der Anfangsphase der Bundesrepublik gerade dieses Verhältnis ein zentraler Gegenstand rechtswissenschaftlicher Debatten, und es lohnt sich, an diese zu erinnern.

Die Sozialstaatsdebatte in der Staatsrechtslehrervereinigung

Die Bestimmung und Reichweite des Sozialstaatsprinzips und damit zusammenhängend die Bedeutung von Art. 14 und 15 GG spielten in der Staatsrechtslehrervereinigung zwischen 1949 bis 1959 eine zentrale Rolle, wie John Philipp Thurn in seiner Schrift »Welcher Sozialstaat« (Tübingen 2013, S. 35ff.) akribisch herausgearbeitet hat. Die demokratischen Möglichkeiten der Sozialisierung wurden nicht nur von Abendroth hervorgehoben. Das Spektrum derjenigen, die die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes betonten war zu diesem Zeitpunkt noch viel größer. Das mag damit zusammenhängen, dass der damals starke soziale Flügel in der CDU unter Jakob Kaiser mit dem Ahlener Wirtschaftsprogramm von 1947 die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien anvisierte. So führte der national-konservative Staatsrechtslehrer Hans Ipsen in seinem Referat auf der Göttinger Staatsrechtslehrertagung von 1951 aus, durch Art. 15 GG sei eine »Ablösung der kapitalistischen Ordnung […] ohne einen Bruch der legalen Kontinuität« möglich (zitiert nach Thurn 2013, S. 40). Ebenso argumentierte der Staatsrechtslehrer Helmut Ridder, dass Art. 15 GG der »sozialstaatlichen Dynamik unmittelbar Raum« geben könne (zitiert nach Thurn 2013, S. 90). Abendroth konturierte in einem Diskussionsbeitrag auf der Tagung die verfassungspolitischen Möglichkeiten des Art. 15 GG: »Das Grundgesetz rechnet vielmehr mit einer langen Periode der Umwandlung der bestehenden Gesellschaft in diejenige der sozialen Demokratie und hat eben deshalb die dauernde verfassungsrechtliche Möglichkeit des sozialentwährenden Eingriffs in die Eigentumsordnung eröffnet« (Abendroth, Gesammelte Schriften Band 2, S. 345). Der Hauptgegner von Abendroth in dieser Debatte war der Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff, der allen Ansätzen entgegentrat, »die dem Sozialstaatsprinzip Bedeutung für die Eigentumsordnung beimessen wollten« (Thurn 2013, S. 92f.). Nichtsdestotrotz zeigen die damaligen Debatten, dass in der Rechtswissenschaft mit großer Ernsthaftigkeit darum gestritten wurde, welche demokratischen Handlungsspielräume das Grundgesetz für eine wirtschaftspolitische Umgestaltung bietet. Nicht nur Abendroth, sondern neben ihm auch andere Staatsrechtslehrer sprachen sich für eine »maßgeblich vom Sozialstaatsprinzip beeinflusste Eigentumsdogmatik aus« (Thurn 2013, S. 87; siehe für eine Übersicht der Akteure Ebd., S. 86ff.).

Dass von der Sozialisierung, die Art. 15 GG ermöglicht, nie Gebrauch gemacht wurde – abgesehen von einem gescheiterten Versuch im Bundesland Hessen – hat keine verfassungsrechtlichen, sondern politische Hintergründe. Die SPD bekannte sich spätestens durch ihr Godesberger Parteiprogramm 1959 zur Marktwirtschaft und gab das Projekt einer Sozialisierung der Produktionsmittel auf. Abendroth und andere Vertreter*innen der Marburger Schule versuchten dennoch in rechtspolitischen Beiträgen den Einsatz für eine radikale soziale Demokratie in der Diskussion zu halten. Die Dominanz des Neoliberalismus und die damit einhergehenden Privatisierungspolitiken, die nicht zuletzt von Parteien des linken Spektrums auch in Berlin mitgetragen wurden, marginalisierten diese Positionen in der politischen Sphäre wie auch an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht wieder auf die politische Tagesordnung kommen können.

Sozialisierung als demokratische Frage

Denn Wolfgang Abendroth war sich vollkommen darüber im Klaren, dass die soziale Demokratie ihren Ausgangspunkt in der demokratischen Mobilisierung der Gesellschaft nehmen müsste. In einem Diskussionsbeitrag schrieb er hellsichtig: »Wenn nämlich der Widerstand stets erfolgreich ist, entwickelt sich das Klassenbewusstsein der ungeheuren Majorität der Bevölkerung […] dahin, dass sie dann die Möglichkeit des Art. 15 des Grundgesetzes nutzt« (Abendroth in: Römer [Hrsg.], Der Kampf um das Grundgesetz, Frankfurt am Main 1977, S. 255). Die Spekulationen um Immobilien waren der Ausgangspunkt für die vergangenen Wirtschafts- und Finanzkrisen, die sich nicht zuletzt in demokratischen Krisen verdichtet haben. Die vielgestaltigen politischen Versuche, den Wohnungsmarkt durch eine andere Liegenschaftspolitik, Mietdeckel oder Steuerpolitiken sozial zu befrieden haben sich bisher als fruchtlos erwiesen: Denn sie waren nicht in der Lage »die Grundlage der Bodenfrage«, also »das kapitalistische Privateigentum an Grund und Boden und dessen profitorientierte Verwertung« zu adressieren (Heinz/Belina, 2019, S. 8).

Wir erleben gerade in den Auseinandersetzungen in Berlin, wo der Druck auf den Kessel besonders groß ist, wie sich im Sinne von Abendroth ein gestiegenes Bewusstsein um die gesellschaftlichen Ursachen steigender Mieten etabliert hat. Dadurch wird nicht nur der politische Diskurs erweitert, sondern zugleich werden die Rahmenbedingungen der Verfassung ausgelotet. In der Geschichte des Grundgesetzes waren es gerade soziale Bewegungen, die die Verfassungspositionen aus der rechtsdogmatischen Erstarrung herausholten und »einbürgerten«, wie nicht zuletzt die Entscheidungen zur Versammlungsfreiheit im Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315) oder zur informationellen Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil zeigen (BVerfGE 65, 1). Scheinbar »leere Worthülsen«, wie auch Art. 15 GG mitunter beschrieben wird, wurden durch das Zusammenspiel von sozialen Bewegungen, rechtswissenschaftlicher Lehre und Rechtsprechung mit Leben gefüllt.

Dass die Gegner*innen der Berliner Initiative indes antikommunistische Ressentiments mobilisieren und zudem das Argument anführen, der Staat sei nicht der bessere Unternehmer, verweist auf ihren begrenzten rechtspolitischen Horizont. Die Sozialisierung muss nicht per se damit einhergehen, dass am Ende die Stadt Berlin zum staatskapitalistischen Wohnungseigentümer wird. Vielmehr ermöglicht die Sozialisierung verschiedene Varianten der Gemeinwirtschaft, wie Genossenschaften, Stiftungen oder Vereine (Gutachten Geulen, 2018, S. 10). Wenn die Perspektive derart umgedreht wird, dann kann es sich bei der Sozialisierung um einen Baustein im Ringen um die radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche handeln: Die Menschen entscheiden dann selbst, wie sie wohnen wollen.

Die Berliner Diskussionen können als Ausgangspunkt dienen, um die soziale Frage im Rahmen der Verfassungsdiskussion zu reaktualisieren. Einige ältere rechtspolitische Vorschläge könnten in diesem Zuge ebenfalls wieder an Gewicht gewinnen. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich setzte sich zum Beispiel schon in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der pathologischen Effekte eines unmenschlichen Wohnungsmarktes für eine radikale Bodenreform ein. Und es war gerade der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der in seiner juristischen Dissertation »Bürger ohne Obdach« ein Grundrecht auf Wohnen rechtspolitisch konturierte (Steinmeier 1992, S. 391ff.). Wer das Grundgesetz indes auf die strenge Einhaltung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung reduziert, betreibt einen Dogmatismus, der demokratische Handlungsspielräume verschließen möchte.

Der Beitrag ist zuerst auf dem Verfassungsblog am 15. April 2019 erschienen.

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