In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren hat Deutschland bedeutende Fortschritte in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemacht. Sozialpolitische Reformen wie Elterngeld und Frauenquote zeigen erste Wirkungen. Ein Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs zeigt jedoch, dass es trotz alledem noch ein weiter Weg ist. Die Möglichkeiten des Rechts sind an dieser Stelle begrenzt.
Wenige Themen eignen sich in Deutschland so gut dazu, kollektive Klagelieder anzustimmen, wie der Ärzt*innenmangel. Monatelange Wartezeiten auf einen Termin bei der Fachärztin oder einem Spezialisten sind keine Seltenheit. Auf dem Land kommt häufig noch eine kilometerweite Anfahrt hinzu. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung prognostiziert bis 2030 einen leichten Anstieg der Nachfrage, während das Angebot weiter sinken wird. Über die Ursachen des Problems herrscht Uneinigkeit. Die Arbeitszeiten, der demografische Wandel, die mangelnde Attraktivität ländlicher Gegenden für junge Mediziner*innen und die im Vergleich zu einigen anderen europäischen Ländern schlechtere Bezahlung sind mögliche Erklärungen. An mangelndem Interesse kann es nicht liegen. Zum Wintersemester 2015/16 bewarben sich auf 9.000 Studienplätze in Humanmedizin an den deutschen Hochschulen mehr als 43.000 Abiturient*innen.
Womöglich aber ist der Mediziner*innenmangel darin begründet, dass sich unter den zum Studium Zugelassenen zu viele befinden, die für den Beruf gar nicht geeignet sind. So jedenfalls sieht es Jürgen Freyschmidt, Radiologe und emeritierter Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover. In einem Gastbeitrag für die FAZ hat Freyschmidt die Abiturnote und den Frauenanteil von 65% unter den Studienanfänger*innen als Gründe für überfüllte Arztpraxen und chronisch überlastete Kliniken ausgemacht. Zu viele Frauen brächen das Studium ab, wanderten nach dem Staatsexamen in nichtärztliche Betätigungsfelder ab, gründeten Familien und seien dann mit Kindererziehung beschäftigt. Wenn es dagegen mehr Ärzte gäbe, so die Schlussfolgerung, könnten Arbeitgeber wieder vollumfänglich auf leistungsbereite Fachkräfte zurückgreifen und müssten sich nicht mit infolge von Teilzeitarbeit am Nachmittag verwaisten Krankenhausstationen befassen.
Um das Problem zu lösen, schlägt Freyschmidt einen psychologischen Eignungstest für Studienbewerber*innen und zur Eindämmung der „nicht mehr aufzuhaltenden Feminisierung der Medizin“ eine 50/50-Geschlechterquote vor. Ob im Rahmen eines solchen Eignungstests auch die Einstellungen und Pläne der Bewerber*innen in Bezug auf Teilzeitarbeit und gleichberechtigte Paarbeziehungen abgefragt würden, präzisiert Freyschmidt leider nicht.
Wer nimmt die Kinder?
Letztendlich impliziert diese Herangehensweise, dass Frauen als den Hauptverantwortlichen für die Kinderbetreuung gar nichts anderes übrig bleibt, als nach der Geburt der Kinder beruflich kürzerzutreten. Die Väter tauchen in dieser Gleichung nicht auf. Es wäre verlockend, derlei Stimmen als Ewiggestrige abzutun und auf Elterngeld Plus, Vätermonate und als familienfreundlich ausgezeichnete Arbeitgebende zu verweisen. Die Realität ist von dem traditionellen Rollenverständnis jedoch nicht so weit entfernt, wie man im Jahr 2017 erwarten könnte.
Ende Februar dieses Jahres veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Studie über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Elternteile in Deutschland. Im Fokus der Untersuchung stehen der Anteil berufstätiger Frauen sowie deren Wochenarbeitszeit, die Aufteilung der häuslichen und familiären Aufgaben sowie die Einstellungen in der Bevölkerung zum Thema Vereinbarkeit und arbeitende Mütter.
Die tiefgreifenden familienpolitischen Umwälzungen der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre haben laut den Autor*innen der Studie zwar zu Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geführt und auch die gesellschaftliche Debatte beeinflusst. So vertreten in den OECD-Ländern nur die Schwed*innen egalitärere Einstellungen zu Beruf und Familie als die Deutschen. Doch bleibt es in Deutschland im Gegensatz zu Schweden oft nur bei dem frommen Wunsch: während in Schweden und Dänemark 82 Prozent der Mütter erwerbstätig sind, sind es in Deutschland nur 70 Prozent mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 20 Stunden. Im Vergleich dazu sind in Schweden weniger als zehn Prozent der erwerbstätigen Mütter in Teilzeit beschäftigt. Dagegen übernehmen Frauen in Deutschland nach wie vor zwei Drittel der unbezahlten Hausarbeit und darüber hinaus den Großteil der Kinderbetreuung. Die Männer gehen zwar in Elternzeit, im deutschlandweiten Durchschnitt allerdings nur für 3,1 Monate. Dies ist nur wenig mehr als die zwei Monate, vulgo „Vätermonate“, die einer der Elternteile mindestens in Anspruch nehmen muss, um voll vom Elterngeld zu profitieren. Nach der Rückkehr aus der Elternzeit reduzieren sie im Gegensatz zu den Frauen ihre Wochenarbeitszeit in den meisten Fällen nicht. Für Mütter in Deutschland ist es daher weiterhin schwer, ihr berufliches Potenzial voll auszuschöpfen, was sich auch in niedrigeren Lohn- und Rentenansprüchen niederschlägt. Väter können durch die höhere Arbeitsbelastung im Gegenzug weniger am Familienleben teilhaben.
Die Grenzen rechtlicher Anreize
Die Politik hat das Problem erkannt und bemüht sich, mit verschiedenen Anreizen gegenzusteuern. Die Einführung des Elterngelds jährt sich in diesem Jahr zum zehnten Mal und die jüngsten Reformbemühungen in diesem Bereich zielen darauf ab, die Elternzeit auch für Väter attraktiv zu machen. Hinzu kommt eines der wohl kontroversesten Institute der vergangenen Jahre, die gesetzlich verbindliche Frauenquote für Führungspositionen. Nachdem die freiwillige Selbstverpflichtung von DAX-Unternehmen bestenfalls marginale Verbesserungen bewirkte, gilt seit dem 1. Januar 2016 eine verbindliche Quote von 30 Prozent für frei werdende Aufsichtsratsposten in börsennotierten und voll mitbestimmten Unternehmen. Mehr als ein Jahr nach der Einführung zeigt das Gesetz erste Wirkungen: Wo im Jahr 2016 noch keine 30 Prozent Frauenanteil im Vorstand erreicht waren, wurden neu zu besetzende Posten durchgängig an Frauen vergeben.
Andererseits wurden die gesetzlichen Spielräume auch seitens der Unternehmen vollumfänglich ausgenutzt. So müssen die vom Gesetz betroffenen Gesellschaften in Lageberichten Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand sowie den beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstandes bestimmen. Eine Studie von Allen & Overy zeigt, dass ein Drittel der DAX-Gesellschaften mit entsprechenden Lageberichten für den Vorstand eine Zielgröße von null ausgerufen hatten. Von den MDAX-Gesellschaften zeigten sich sogar zwei Drittel ebenso „ambitioniert“, was Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) jüngst zu Drohgebärden in Richtung dieser Unternehmen veranlasste. Auch, wenn die Quote im ersten Jahr ihres Bestehens leichte Fortschritte gebracht hat, so rüttelt sie doch nicht an den Grundpfeilern der deutschen Unternehmenskultur.
Angesichts der nach wie vor nur durchschnittlich ausgeprägten gelebten Gleichberechtigung in Berufs- und Familienarbeit sind Zweifel an den Korrekturmöglichkeiten des Rechts angebracht. So mag es vielerlei Gründe geben, warum ein Großteil der Männer in Deutschland noch immer keine aktivere Rolle in der Kinderbetreuung übernimmt oder Unternehmen keine Notwendigkeit sehen, auch nur eine Frau in den Vorstand zu berufen. Jedoch würden diese Gründe wohl weniger schwer wiegen, wären Väter in Teilzeit, voll berufstätige Mütter und Frauen in Führungspositionen nicht noch immer eine Ausnahmeerscheinung. Aufgrund der fehlenden breiten gesellschaftlichen Akzeptanz stoßen Frauen auf ihrem Karriereweg weiterhin an die „gläserne Decke“ und werden Väter, die in Elternzeit gehen wollen, trotz des bestehenden Rechtsanspruchs kritisch beäugt. Angesichts dieser Umstände liegt es für viele Männer näher, auch nach der Geburt ihrer Kinder und einem kurzen Intermezzo im „Wickelvolontariat“ (Peter Ramsauer, CSU) ihrem Beruf in Vollzeit nachzugehen. Noch dazu, wenn sie Mediziner sind und sich mit Jürgen Freyschmidt als Retter eines vor dem Zusammenbruch stehenden Gesundheitssystems fühlen dürfen.
Das Recht allein kann einen gesellschaftlichen Wandel zwar nicht allein herbeiführen, ihn aber begünstigen. Der Gesetzgeber ist daher in der Pflicht, bestehende Förderinstrumente der Chancengleichheit zu verbessern und weitere zu schaffen. Vor allem hat er dafür zu sorgen, dass sich die gesetzlichen Regelungen nicht durch rechtliche Schlupflöcher aushebeln lassen. Die zitierte OECD-Studie trägt im Übrigen den prägnanten Titel „Dare to share“. Es bleibt zu hoffen, dass eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen als auch Männern an Berufs- und Familienleben in naher Zukunft weniger ein Wagnis als eine Selbstverständlichkeit sein wird.