Das Land Berlin muss einer muslimischen Lehrerin, die nicht eingestellt wurde, weil sie ein Kopftuch trägt, zwei Monatsgehälter Entschädigung bezahlen. Das hat das Landesarbeitsgericht Berlin am 9. Februar 2017 in zweiter Instanz entschieden. Das Urteil lässt den Streit um das Berliner Neutralitätsgesetz neu aufflammen. Dazu wirft es einen Konflikt auf, der so alt ist wie unsere Verfassung selbst: Wie klar lassen sich Staat und Religion in einem Land trennen, das religiös und weltanschaulich neutral auftreten und trotzdem nicht diskriminierend sein will? Und wo ziehen wir die Grenze, wenn formelle Neutralität dazu führt, dass die Grundrechte Einiger in hohem Maße beschnitten werden?
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Im Fall der jungen Muslima, die aufgrund ihres Kopftuchs nicht zum Schuldienst zugelassen wurde, haben die Berliner Gerichte in diesen Tagen eine beachtliche Kehrtwende gemacht. Hatte das Arbeitsgericht im April vergangenen Jahres noch entschieden, dass das Berliner Neutralitätsgesetz, das das Land Berlin zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet und Polizist*innen, Lehrenden an allgemeinbildenden Schulen und Justizmitarbeitenden im Dienst das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke untersagt, der Anstellung einer kopftuchtragenden Muslima entgegenstehe, so hat das Landesarbeitsgericht dieses Urteil nun gekippt. Die Nichteinstellung sei eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Klägerin im Sinne des § 7 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), so die Richter des Landesarbeitsgerichts.
Das Neutralitätsgesetz müsse im Hinblick auf die zu dieser Thematik ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausgelegt werden.
Die Position des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat zum Kopftuch bereits zwei wegweisende Urteile gesprochen. Im Jahre 2003 hatte es im Falle der muslimischen Lehrerin Ludin entschieden, dass die Ablehnung der Einstellung in den Schuldienst einen Eingriff in das Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem ihr durch Art. 4 Absatz 1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darstelle. Gemäß der Wesentlichkeitstheorie, nach der eine Einschränkung der Grundrechte nicht ohne gesetzliche Grundlage erfolgen darf, seien die Gesetzgeber in den Ländern aufgefordert, eine solche zu schaffen.
Daraufhin wurden diverse Länder tätig und auch Berlin erließ ein entsprechendes Gesetz. Seit 2005 verbietet das Berliner Neutralitätsgesetz Angestellten in Justiz, Polizei und an allgemeinbildenden Schulen, religiöse Kleidung im Dienst zu tragen. Das Berliner Neutralitätsgesetz gilt als eines der striktesten, denn es verbietet ohne Differenzierung alle religiösen Symbole mit Ausnahme kleiner Schmuckstücke. Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland hingegen trafen in ihren Landesgesetzen Ausnahmeregelungen für Symbole christlich-abendländischer Tradition.
Mit seinem Beschluss vom Frühjahr 2015 hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung aus dem Jahr 2003 inzwischen präzisiert und am Beispiel zweier muslimischer Lehrerinnen aus Nordrhein-Westfalen nicht nur Ausnahmeregelungen für die christliche Religion untersagt, sondern auch ein pauschales Kopftuchverbot für unzulässig erklärt. Ein striktes und landesweites Verbot der religiösen Bekundung im Schuldienst, das bloß an eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität anknüpfe, sei für die Klägerinnen unzumutbar. Künftig müsse bei einer Nichteinstellung eine konkrete Gefahr für Neutralität und Schulfrieden nachgewiesen werden.
Das Regel-Ausnahme-Prinzip
Von dieser Argumentation hat sich auch das Landesarbeitsgericht in seiner aktuellen Entscheidung leiten lassen. Ein Ausschluss aus dem Schuldienst wäre nach Ansicht der Kammer nur dann mit der Verfassung vereinbar, wenn von der Lehrerin „eine konkrete Gefährdung für den Schulfrieden“ ausgehe. Diesen Nachweis habe das Land aber nicht erbracht.
Die Frage, die das Landesarbeitsgericht durch das Urteil offenließ, ist indes, ob das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner derzeitigen Fassung überhaupt tragbar ist. In ihrem Urteil bewertete die 14. Kammer nicht die Verfassungskonformität des Gesetzes selbst, sondern versuchte, dieses verfassungskonform auszulegen. Demnach hätte die Schulverwaltung bei der Klägerin von Ausnahmeregelungen Gebrauch machen können, statt ihr eine Beschäftigung pauschal zu verwehren. Solche Ausnahmen kann die oberste Dienstbehörde nach § 3 des Neutralitätsgesetzes zulassen. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts führt also im Ergebnis dazu, dass die Ausnahme zur Regel wird, um der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen.
Die Debatte um das Neutralitätsgesetz flammt erneut auf
Angesichts dieser Auslegungsakrobatik wäre es womöglich naheliegender gewesen, das Neutralitätsgesetz im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle direkt dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Denn der aktuelle Fall vor dem Landesarbeitsgericht ist kein Sonderfall, sondern stellt die Verfassungskonformität des Neutralitätsgesetzes als Ganzes infrage und entfacht damit einen schwelenden politischen Konflikt über das Gesetz neu.
Der wissenschaftliche Parlamentsdienst des Abgeordnetenhauses äußerte seine Bedenken bereits in einem 2015 veröffentlichten Gutachten. Die Experten halten das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner aktuellen Form für teilweise verfassungswidrig und empfehlen eine Neuregelung. Ihrer Ansicht nach muss das Tragen religiöser Symbole gestattet sein, sofern es als religiöse Pflicht wahrgenommen und der Schulfrieden dadurch nicht gestört wird.
Auch der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Bündnis90/Die Grünen) begrüßte das Urteil des Landesarbeitsgerichts. „Das ist ein guter Tag für die Antidiskriminierung und wohl der Anfang vom Ende des Berliner Neutralitätsgesetzes“, so Behrendt nach der Urteilsverkündung.
Vorstandsmitglied des Türkischen Bund Berlin-Brandenburg (TBB) Safter Çınar stellte fest, dass „das sogenannte Neutralitätsgesetz Vorurteile [verstärke], indem es das Tragen eines – von vielen Muslima als Gebot erachteten – Kopftuchs zur Gefahr erklärt [und] gerade diese Sichtweise schädige das Zusammenleben.“ Eine mittelbare Diskriminierung sieht auch Yasemin Shooman, Historikerin und Rassismus-Forscherin, in dem „vermeintlich neutralen“ Gesetz.
„Wenn es das Berliner Neutralitätsgesetz nicht gäbe, müsste es sofort geschrieben und verabschiedet werden“, betonte hingegen Innensenator Andreas Geisel (SPD). Auch Burkhard Dregger, innenpolitischer Sprecher der CDU, sprach sich für das Neutralitätsgesetz aus. Es behandele Angehörige aller Religionen gleich und untersage Lehrenden öffentlicher Schulen sowie Polizei und Justiz das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole. „Das Kopftuch wird von vielen als ein politisches Ausdrucksmittel angesehen, das die Unterdrückung und Diskriminierung der Frau symbolisiert. Der Staat darf aber nicht den Anschein erwecken, dass seine Entscheidungsträger nach anderen Kriterien entscheiden als nach Recht und Gesetz“, so Dregger. Daher sei es richtig, dass der Staat sichtbar und erkennbar weltanschaulich und religiös neutral auftrete.
Das Berliner Neutralitätsgesetz – nur vermeintlich neutral?
Schule, Gerichtssaal und Polizeiwache sollen religiös und weltanschaulich neutral sein, weil die Bürger*innen in besonderer Weise dem Wirken des Staates ausgesetzt sind. Neutral müssen sich auch Lehrer*innen verhalten. Sie dürfen nicht missionieren und keinen politischen Einfluss auf die Schüler*innen nehmen. Dies gilt für Lehrende mit oder ohne Kopftuch. Man kann einer Muslima diese Fähigkeit zu unbefangenem Handeln nicht bloß aufgrund ihres Kopftuches absprechen, ebenso wie ein Kopftuchverbot sie nicht zum areligiösen und meinungslosen Wesen macht. Vielmehr können Menschen jeglicher Überzeugung ausgrenzendes Denken in Positionen mitbringen, in denen sie hoheitliche Macht über andere ausüben. Musliminnen hierbei mit mehr Misstrauen zu begegnen als Christen oder Atheisten, ist diskriminierend, und die pauschale Annahme, eine Lehrerin mit Kopftuch symbolisiere die Unfreiheit der Frau, wirke missionierend oder gefährde den Schulfrieden, hat mehr mit Vorurteilen und Stigmatisierung zu tun als mit der Wahrung verfassungsrechtlicher Interessen. Dies zeigen auch die ursprünglichen Ausnahmeregelungen für Symbole der christlich-abendländischen Tradition, die eine politische Motivation hinter dem Verbot erahnen lassen, welche mit Streben nach staatlicher Neutralität wenig gemeinsam hat.
Darüber hinaus gewinnt der Begriff der staatlichen Neutralität in der andauernden Debatte um das Kopftuch eine andere Bedeutung, als ihm von den Verfassungsgebern zugedacht war. Dem deutschen Grundgesetz liegt kein streng laizistisches Verständnis der Trennung von Staat und Kirche zugrunde, wie es etwa in der französischen Verfassung verankert ist. Vielmehr folgt unsere Verfassung dem Modell der kooperativen Trennung: Der Staat darf sich nicht mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren, sondern muss allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral und tolerant gegenüberstehen. Gleichzeitig garantiert er Räume eines partnerschaftlichen Miteinanders, wie sie in einem laizistischen Staat nicht existieren. Er ist den Religionen gegenüber offen und zugewandt und gewährt ihnen privaten und öffentlichen Entfaltungsraum, um aktiv zum gesellschaftlichen Leben beizutragen. Vor diesem Hintergrund sollte die Maxime nicht sein, jedwedes religiöses und weltanschauliches Symbol aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, sondern auch in den sogenannten „bekenntnisoffenen“ Gemeinschaftsschulen genau das zu sein: offen und tolerant gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen. Die Schule ist kein Rückzugsort, an dem die Augen vor der gesellschaftlichen Diversität und Realität verschlossen werden können, sondern ein Spiegel unserer religiös-pluralistischen Gesellschaft. Es entspricht dem Erziehungsauftrag der Schulen, die Schüler*innen auf diese Gesellschaft vorzubereiten und die staatliche Neutralität zu bewahren, indem der Staat ein unparteiische Haltung einnimmt, in der alle Betroffenen gleich und respektvoll behandelt werden. „In dieser Offenheit“, so das Bundesverfassungsgericht, „bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“.
Ob Berlin diesem Anspruch mit seinem pauschalen Verbot religiöser und weltanschaulicher Symbole gerecht werden kann, wird sich in den nächsten Monaten herauskristallisieren. Zwar kennt das Berliner Neutralitätsgesetz keine Sonderregelungen für christlich-abendländische Symbole, wie sie in Nordrhein-Westfalen untersagt wurden, dennoch erscheint es zweifelhaft, dass das Gesetz in seiner derzeitigen Fassung bestehen bleiben kann. Denn das Neutralitätsgesetz ordnet genau das an, was das Bundesverfassungsgericht 2015 untersagt hat: Einen grundsätzlichen Ausschluss von Lehrenden, die religiöse Symbole tragen, aus dem öffentlichen Dienst, unabhängig von einer konkreten Gefährdungslage für den Schulfrieden und die Neutralität des Landes Berlin. Dass das Landesarbeitsgericht bewiesen hat, dass dieses Ergebnis durch Rückgriff auf Ausnahmeklauseln umgangen werden kann, ändert nichts an der grundsätzlichen Wertung, die das Berliner Neutralitätsgesetz trifft und die der Position des Bundesverfassungsgerichts diametral gegenübersteht.
Kopftuchtragenden Pädagoginnen ist mit dem aktuellen Urteil des Landesarbeitsgerichts jedenfalls der Weg an Berlins Schulen geebnet. Denn eine konkrete Gefahr, wie die Richter sie mit Blick aufs Bundesverfassungsgericht gefordert haben, wird das Land sicher nur in Einzelfällen glaubhaft darlegen können.