2019 – Jahr der Jubiläen. Neben dem 100. Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung, dem 70. Geburtstag des Grundgesetzes und dem 60. Geburtstag des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte feiert auch ein kleineres und jüngeres Projekt Geburtstag. Die Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte (HLCMR) hat ihren zehnten Ausbildungszyklus erfolgreich abgeschlossen. In den USA hat das Konzept der praxisnahen Ausbildung in Law Clinics, insbesondere durch studentische Rechtsberatung, eine jahrzehntelange Tradition. In Deutschland ist die kostenlose Rechtsberatung durch Studierende erst seit der Änderung des Rechtsdienstleistungsgesetzesim Jahr 2007 zulässig.
Seitdem ist eine Vielzahl von Law Clinics entstanden. Eine der ersten war die HLCMR, die seit ihrer Gründung unter der Regie von Susanne Baer im Jahr 2009 bereits an unterschiedlichsten Projekten in den Bereichen Antidiskriminierung, Menschenrechte und Rechtspolitik mitgewirkt hat. Anders als andere Law Clinics bietet die HLCMR keine Rechtsberatung an. Stattdessen verfassen die Studierenden wissenschaftliche Expertisen für Kooperationspartner_innen der HLCMR. Zu diesen gehören NGOs, Beratungsstellen und Anwält_innen. Das Jubiläum der HLCMR bietet Anlass, die wichtige Rolle von Law Clinics für die juristische Ausbildung hervorzuheben. Sie eröffnen Studierenden eine neue, über die rein juridisch-systematischen Aspekte von Recht hinausgehende Perspektive. Durch die Anwendung von Recht außerhalb des geschützten Raumes der juristischen Fakultäten kommen Studierende in Kontakt mit den realen Kontexten, in denen Recht entsteht und wirkt. Dadurch leisten Law Clinics einen wichtigen Beitrag zu einer realistischen juristischen Ausbildung. Die Teilnehmer_innen der HLCMR beschäftigen sich aufgrund des Schwerpunkts der HLCMR insbesondere mit gesellschaftlichen Ungleichheiten und diskriminierenden Strukturen. Dieses Thema spielte auch bei der Jubiläumsfeier am 13. Dezember 2019 eine große Rolle.
„Gleichheit als Grundrecht im 21. Jahrhundert“
Susanne Baer, Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin, Bundesverfassungsrichterin und Gründerin der HLCMR, fragte in ihrem Festvortrag, wo wir momentan in Bezug auf Gleichheit stehen. Doch wozu sollen wir uns heute noch Gedanken über Gleichheit machen? Aus rein juridischer Sicht scheint das Problem längst gelöst. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes verdanken wir eine Vielzahl von Gleichheitsrechten im Grundgesetz. Das AGG bietet Menschen in Deutschland die Möglichkeit, sich gegen Diskriminierungen durch Private zu wehren. Auch auf supra- und internationaler Ebene finden sich verschiedene Gleichheitsrechte, von der Grundrechtecharta auf EU-Ebene über die EMRK auf europäischer Ebene bis hin zu Frauenrechtskonvention,Behindertenrechtskonvention und Anti-Rassismus-Konvention auf UN-Ebene.
Doch das reiche nicht aus, argumentierte Susanne Baer in ihrer Rede. Es genüge nicht, nur die formellen Aspekte von Gleichheit zu betrachten. Vielmehr müsse man eine realistische Perspektive einnehmen, die sich bemüht, das Recht vom Unrecht her zu begreifen.
Der Mythos von Chancengleichheit
Bis heute hält sich der Mythos, dass man nur hart genug arbeiten müsse, um erfolgreich zu sein.
Dennoch kann man in allen Bereichen der Gesellschaft die Benachteiligung von Menschen aufgrund verschiedener diskriminierender Strukturen beobachten. So spiegeln sich die akademischen Leistungen von Frauen meist nicht in ihren tatsächlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt wieder. Bis heute sind nur etwa ein Viertel der Lehrstühle an deutschen Hochschulen mit Frauen besetzt, obwohl sie mehr als 50% der Bevölkerung darstellen. Ungleichheit knüpft nicht nur an das (zugeschriebene) Geschlecht von Personen an. Sie besteht auf vielen Ebenen und betrifft jede_n. So studieren Kinder aus nicht-akademischen Haushalten deutlich seltener als Kinder, deren Eltern selbst studiert haben. Schüler_innen an Brennpunktschulen, die meist aus einkommensschwachen und „bildungsfernen“ Familien stammen, haben oft schlechter ausgebildete Lehrkräfte. Menschen mit Migrationshintergrund verdienen im Schnitt deutlich weniger als Menschen ohne Migrationshintergrund und arbeiten seltener in Führungspositionen. Menschen mit Behinderung wird durch Barrieren oft die Teilhabe verwehrt, sei es durch mangelnde Zugänglichkeit durch kaputte oder fehlende Aufzüge oder das Fehlen barrierefrei zugänglicher Medien für Menschen mit Sehbehinderung. Zwar hat sich die Lage in vielen Bereichen in den letzten Jahren verbessert, wirklich gut ist sie aber noch nicht.
Anzunehmen, dass jede_r in dieser Gesellschaft die gleichen Chancen auf Erfolg hat, ist, als würde man annehmen, dass bei einem 100-Meter-Lauf, bei dem einzelne Läufer_innen einen Vorsprung von dutzenden Metern haben, alle die gleiche Chance auf den Sieg haben.
Neben der formellen Gleichheit, die wir in vielen Bereichen bereits haben, bedarf es also auch der materiellen Gleichheit. Das soll mitnichten bedeuten, dass alle genau gleich behandelt werden. Ein solcher Ansatz wäre nicht nur nicht zielführend, er wäre sogar kontraproduktiv. Vielmehr müssen Menschen mit all ihren Unterschieden und Eigenheiten als gleichwertig behandelt werden. Das bedeutet auch, dass bestehende Nachteile ausgeglichen werden müssen, damit alle Menschen vergleichbare Chancen auf Erfolg haben. Blickt man jedoch nur durch die juridisch-systematische Brille auf die Gesellschaft, ist es schwer, die Ansatzpunkte für solche Maßnahmen zu finden. Baer zitierte an dieser Stelle die US-amerikanische Feministin und Juristin Catherine MacKinnon, die formell verstandene Gleichheit als den „Samthandschuh auf der Faust der Macht“ beschreibt. Wer Gleichheit nur aus der juridisch-systematischen Perspektive betrachte, laufe Gefahr, Ungleichheiten zu perpetuieren, da stets nur bereits Vergleichbares verglichen werde. Dabei würden fundamentale Ungleichheiten übersehen, da sie aus der Sicht derjenigen, die nicht von ihnen betroffen sind, unsichtbar blieben. Nur durch einen Perspektivwechsel wäre es möglich, normalisierte Ungleichheiten als solche zu identifizieren und gegen sie vorzugehen.
Gleichheit im Rahmen der juristischen Ausbildung
Betrachtet man vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ungleichheiten das Jurastudium, so fällt auf, dass gesellschaftspolitische Aspekte im Studium nach wie vor zu kurz kommen. Zwar bieten Universitäten wie die Humboldt-Universität Vorlesungen zu Themen wie Rechtssoziologie und -philosophie an, Pflichtprogramm sind diese Fächer aber noch lange nicht. Studierende können das Studium bis heute abschließen, ohne jemals eine Veranstaltung besucht zu haben, in der bestehendes Recht und seine Wirkungen eingehend kritisch hinterfragt wurden. An eben diesem Punkt setzen Law Clinics an. Die Studierenden lernen durch die Bearbeitung einzelner Fälle und die Untersuchung der Strukturen, die diesen zugrunde liegen, Recht aus einer realistischeren Perspektive zu betrachten, es anzuwenden, um Ungleichheiten zu bekämpfen und bestehende Strukturen zu hinterfragen. Die Arbeit in Law Clinics zwingt Studierende dazu, das Recht aus der Perspektive derjenigen zu betrachten, die nach wie vor um Gleichheit kämpfen müssen.
Gerade in Zeiten weltweiter politischer Proteste wie in Hong Kong und im Libanon, des Klimawandels, der neue Fragen globaler Gerechtigkeit aufwirft, in Zeiten wiedererstarkender nationalistischer Bewegungen und frauen-, homo- und transfeindlicher Gruppierungen vermitteln Projekte wie die HLCMR dabei essentielle Fähigkeiten: Die Fähigkeit zur kritischen Betrachtung bestehender Verhältnisse und zur Selbstkritik, zur Solidarität und Kooperation mit den Mitmenschen, die Fähigkeit, zuzuhören, und den Willen und das Wissen, um etwas zu ändern. Einen Einblick in die möglichen Ergebnisse realitätsnaher und bei den Betroffenen ansetzender Lehre bieten die Working Papers der Teilnehmer_innen der HLCMR. Da ein Blogeintrag nicht den erforderlichen Raum bietet, um jedem einzelnen Projekt gerecht zu werden, können sich Leser_innen dieses Beitrags hier über die einzelnen Projekte informieren.
Herzlichen Glückwunsch, liebe HLCMR, auf noch viele erfolgreiche Jahrzehnte!