Seit Monaten wird in der großen Koalition hitzig darüber diskutiert, wie das Verbot der Kinderehen konkret aussehen soll. Der folgende Beitrag beleuchtet die Hintergründe des aktuell diskutierten Verbots, besonders den zugrundeliegenden Beschluss des OLG Bamberg vom 12. Mai 2016, sowie die in der Politik dazu vertretenen Positionen.
Was hat den Streit ausgelöst?
„Eine in Syrien nach syrischem Eheschließungsrecht wirksam geschlossene Ehe einer zum Eheschließungszeitpunkt 14-Jährigen mit einem Volljährigen ist als wirksam anzuerkennen, wenn die Ehegatten der sunnitischen Glaubensrichtung angehören und die Ehe bereits vollzogen ist“. So lautete der Leitsatz des Beschlusses des OLG Bamberg vom 12. Mai 2016. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob die Ehe eines 22-jährigen syrischen Geflüchteten und seiner 15-jährigen Partnerin, seiner Cousine, anzuerkennen sei, nachdem das zuständige Jugendamt dies verweigert hatte.
Das Gericht führte in seiner Entscheidung aus, dass die Eheschließung nach Abwägung der Gesamtumstände auch unter Kindeswohlgesichtspunkten als gültig anzusehen sei, obwohl das Ehemündigkeitsalter von 16 Jahren nach § 1303 Abs. 2 BGB deutlich unterschritten worden war. Gemäß Art. 13 Abs. 1 EGBGB bestimmten sich die Voraussetzungen einer im Ausland geschlossenen Ehe stets nach Recht des Herkunftsortes, hier also nach dem islamischen Familienrecht der Sunna und Shià, im Besonderen nach dem syrischen Personalstatutsgesetz PSG.
Ob eine Ehe, bei der einer oder beide Ehepartner nicht ehemündig sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz des ordre public darstellt, also mit wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung unvereinbar ist, ließ das OLG Bamberg in seiner Entscheidung explizit offen. Es maß dieser Frage gemäß § 70 Abs. 2 Nr. 1 Familienverfahrensgesetz (FamFG) jedoch grundsätzliche Bedeutung bei und ließ die Rechtsbeschwerde vor dem Bundesgerichtshof (BGH) zu.
Reaktionen aus der Politik
Die Folge war, wie zu erwarten, ein öffentlicher Aufschrei. „Bayerisches Gericht erklärt Kinderehe für rechtmäßig“ hörte man am 15. Juni im Deutschlandfunk, „Kinder-Ehe hat Deutschland erreicht – Unter den Asylbewerbern sind hunderte verheiratete Minderjährige“ konnte man in der BILD lesen. In der öffentlichen Debatte fühlten sich viele nun in ihrer Annahme bestätigt, die Scharia hielte nun endgültig Einzug in deutsche Gerichte.
Auf Antrag des NRW-Ressortchefs Thomas Kutschaty (SPD) sollte die Justizministerkonferenz daraufhin prüfen, ob in Deutschland generell die Ehemündigkeit auf 18 Jahre angehoben werden sollte und ob „nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen die Anerkennung versagt werden soll, wenn keine Ehemündigkeit nach deutschem Recht besteht“.
Justizminister Maas appellierte in einem Interview in der BILD: „Niemand, der zu uns kommt, hat das Recht, seine kulturelle Verwurzelung oder seinen religiösen Glauben über unsere Gesetze zu stellen“.
Auch Politiker anderer Parteien scheuten keinerlei Brachialrhetorik: „Junge Mädchen gehören in die Schule – nicht vor den Traualtar“, vernahm man von CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer aus München. Jens Spahn, vermutlich lautstärkstes CDU-Präsidiumsmitglied, polemisierte auf Twitter: „Komische Schwerpunktsetzung: Fürs gegenderte Binnen-i kämpfen und bei Zwangsheirat, Ehrenmord, Kinderehe (=-missbrauch) schweigen. #aufschrei“.
Vereinzelte vor einem Komplettverbot warnende Rufe vernahm man von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Aydan Özoguz, „Ein pauschales Verbot von Ehen von Minderjährigen ist zwar gut gemeint, kann aber im Einzelfall junge Frauen ins soziale Abseits drängen“, sagte die SPD-Politikerin der Funke Mediengruppe noch im November. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) warnte in einem Positionspapier davor, Kinderehen ausnahmslos für unwirksam zu erklären und verwies dabei unter anderem auf den drohenden sozialen Abstieg als Folge sowie Existenzprobleme nach Rückkehr in die Heimatländer.
Wie ist nun eigentlich die Rechtslage?
Bisher gilt: Voraussetzungen der Anerkennung einer im Ausland geschlossenen Ehe bestimmen sich gemäß Art. 13 Abs. 1 EGBGB nach dem Recht dieses Ortes (sog. lex fori). Als einzige Ausnahme wird der Verstoß gegen den sog. ordre public gesehen. Darunter wird im internationalen Privatrecht der Grundsatz verstanden, dass „eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden [ist], wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.“ (Art. 6 EGBGB).
Nach BGH-Rechtsprechung ist maßgeblich für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 EGBGB, ob das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts zu den Grundgedanken der deutschen Regelung und der in ihnen liegenden Gerechtigkeitsvorstellung in einem so starken Widerspruch steht, dass es für untragbar gehalten wird. Bei Art. 6 EGBGB handelt es sich indes um eine Ausnahmevorschrift, die eng auszulegen ist. Erkennbar ist dies bereits an der Formulierung, denn was ist schon „offensichtlich“ mit der deutschen öffentlichen Ordnung unvereinbar?
Als Prüfungsmaßstab sind grundsätzlich nur bereits bestehende (höchstrichterliche) Rechtsanschauungen, die zum Zeitpunkt der Vornahme der Prüfung vorliegen.
Ein Verstoß gegen den deutschen ordre public stellte der 16. Zivilsenat des OLG Köln 1996 beispielsweise im Falle eines zehnjährigen iranischen Mädchens fest, das nach Art. 1210 des iranischen Zivilgesetzbuches als volljährig anzusehen war. Die „Vorstellung, ein zehnjähriges Mädchen sei volljährig, könne heiraten und auch in sexueller Hinsicht ein normales Eheleben führen“ war dem Gericht verständlicherweise jedoch vor allem vor dem Hintergrund des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes junger Menschen aus Art. 1, 2 und 16a Abs. 1 GG gänzlich zuwider und es erklärte ausschließlich deutsches Recht für anwendbar.
In diesem Zusammenhang ebenfalls interessant ist der Fall einer syrischen Frau, die 2006 die Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann beantragte. Ihr Antrag wurde vom zuständigen Amtsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass nach dem für die Ehe der Parteien maßgeblichen katholischen Ostkirchenrecht die Ehe schlichtweg unauflöslich sei. Bei dem Sakrament der Ehe handele es sich ja schließlich um eine von Gott als lebenslange und unauflösliche Gemeinschaft des Lebens und der Liebe, die nur durch den Tod aufgelöst werden könne. Auf dem Internetauftritt des Bistums Regensburg kann man zum Thema Ehe, Scheidung und Kirchenrecht lesen: „Die Kirche orientiert sich an der Weisung Jesu: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,6; Mk 10,9).“ Im Revisionsverfahren stellte der BGH daraufhin fest, dass die Voraussetzungen der Eheschließung nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB tatsächlich kanonischem Recht (Codex Canonum Ecclesiarum Orientalum) zu entnehmen waren, dieses jedoch unvereinbar mit der durch Art. 6 GG garantierten Eheschließungsfreiheit sei. Es führte weiter aus, dass der Verfassung das Bild der „verweltlichten“ bürgerlich-rechtlichen Ehe zu Grunde liege, zu dem es selbstverständlich auch gehöre, dass die Ehegatten unter den vom Gesetz normierten Voraussetzungen geschieden werden könnten. Der Betroffenen selbst half dies nicht mehr, sie wurde noch während des laufenden Revisionsverfahrens zusammen mit ihrer Tochter nach Syrien abgeschoben.
Bei Lektüre dieser Fälle wird also klar, dass die Problematik doch komplexer ist, als Politiker_innen wie Jens Spahn es wahrhaben wollen. Es ist nicht nur islamisches Recht, dass mit der deutschen Rechtsordnung kollidiert. Vergessen darf man nicht, dass das Kirchenrecht in all seinen kanonischen Ausprägungen mitnichten fortschrittlicher ist. Auch nach katholischem Recht (1087 CIC) ist die Ehemündigkeit bereits nach 14 Jahren erreicht. Vielmehr macht dies einmal mehr deutlich, wie wichtig die 1875 eingeführte obligatorische Zivilehe (§ 1310 BGB, Art. 13 Abs. 3 EGBGB), also die Ehe als Rechtsinstitut des staatlichen nicht des konfessionellen Rechts, sowie das erste Eherechtsreformgesetz von 1976 für unser Familien- und Eherecht der Moderne war.
Nur vor dem Hintergrund dieser Errungenschaften waren gesellschaftliche Fortschritte wie die Einführungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare 2001 möglich.
Was heißt das für die vorliegende Problematik?
Fakt ist: Nach Angaben des Ausländerzentralregisters befanden sich im Inland zum Stichtag 31. Juli 2016 1.475 minderjährige ausländische Staatsangehörige, die in Deutschland lebend und als verheiratet erfasst wurden. Darunter befanden sich 361 Kinder unter 14 Jahren, 120 zwischen 14 oder 15 Jahren, 994 waren zwischen 16 und 18 Jahren alt. Die große Mehrheit davon sind Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan sowie dem Irak.
Die Motive, die zu vielen dieser Eheschließungen geführt haben, sind vielfältig. Es sind nicht nur patriarchalische Wertvorstellungen, die eine Rolle spielen. „Die Familien wollen ihre Töchter versorgen und sind auch überzeugt, sie durch eine Heirat besser vor sexuellen Übergriffen schützen zu können“, sagt beispielsweise Myria Böhmecke von Terre des Femmes.
SOS-Kinderdörfer geht davon aus, dass Eltern ihre Töchter in den Lagern in Jordanien, Libanon und der Türkei in dem guten Glauben verheiraten, sie so in der instabilen Fluchtsituation schützen zu können. Damit, dass viele in der Folge sexuellem Missbrauch, Schwangerschaften, häuslicher Gewalt und sozialer Isolation durch die oft wesentlich älteren Ehemänner ausgesetzt werden, scheinen viele nicht zu rechnen.
Richtig ist jedoch auch: Bei der Korrektur ausländischer Rechtsgrundsätze sollte besonders im familienrechtlichen Zusammenhang Rücksicht auf die Verbundenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung des Heimatlandes genommen werden. Die ausländische Rechtswelt schlicht am „deutschen Verfassungswesen genesen zu lassen“ wird der komplexen Lebensrealität vieler Migrant_innen nicht gerecht.
Über die Brisanz von Reformvorhaben im deutschen Ehe- und Familienrecht
Schon in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 119 Abs. 1) stand: „Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung“. Unter anderem vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht erklären, wieso Reformvorhaben im deutschen Ehe- und Familienrecht seit jeher immer von hitzigen Debatten begleitet werden.
Als prominentestes Beispiel gilt vermutlich die Reform von 1977 (1. EheRG), die das Ende des Schuldprinzips im Scheidungsrecht sowie der sog. Hausfrauenehe bedeutete. Bis dahin galt, dass die grundsätzlich lebenslang angelegte Ehe nur ausnahmsweise bei schuldhaftem Verhalten eines der Ehepartner geschieden werden durfte. Nach dieser Schuldfrage bestimmten sich wesentliche Regelungen der Unterhaltsrechte und -pflichten der Geschiedenen – nicht selten führte der Streit um die Schuld zu unschönen Szenen vor Gericht. Frauen durften ohne Erlaubnis ihrer Ehemänner nicht arbeiten, wenn sie es doch taten und die Haushaltsführung vernachlässigten, konnten sie damit rechnen schuldig geschieden zu werden und damit weder Unterhalt noch Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Kritiker der Reform warnten damals vor „liberalistisch-subjektivistischen und links-sozialistischen Tendenzen der Zerstörung“ und sahen mit den neuen Regelungen gar die „Lebensquelle des Volkes“ bedroht.
Weiteres prominentes Beispiel aus dem Strafrecht ist die Straflosigkeit der Vergewaltigung in der Ehe, die erst 1997 nach intensiver Debatte abgeschafft wurde. Bis zu dieser Gesetzesnovelle galt: Mit dem Jawort war der Schutz der Ehefrau als Staatsbürgerin, ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung so gut wie dahin. Der Trauschein münzte ein Verbrechen in ein Vergehen, eine Vergewaltigung in eine Nötigung um. Interessant hierbei: Wie auch in der Debatte um die Reform des Sexualstrafrechts im Juli 2016 argumentierten Gegner der Strafbarkeit damals, eine Reform führe zu Beweisschwierigkeiten. Generalstaatsanwalt Hans-Joachim Ulrich vertrat noch 1987 die These, das Intimleben von Eheleuten sei für den Staat tabu, am Ehebett gebe es für Staatsanwälte nichts zu ermitteln.
Welche Reformvorhaben werden für die Kinderehe diskutiert?
Über das Verbot der Kinderehe wird nunmehr seit Monaten ähnlich heftig diskutiert, doch noch immer scheinen sich Union und SPD nicht darauf einigen zu können, wie das Verbot konkret aussehen und vor allem wie mit den bereits geschlossenen Ehen umgegangen werden soll. Mit dem Vorschlag von Justizminister Heiko Maas, der einige Ausnahmeregelungen vorgesehen hatte, waren in den Fraktionen von Union und SPD nicht alle zufrieden. SPD und CSU befürworteten bereits seit Beginn der Debatte stets eine Nichtigkeitslösung. Im Ausland geschlossene Ehen mit mindestens einer minderjährigen Person sollten demnach hierzulande juristisch so behandelt werden, als seien sie nie geschlossen worden. Die von Teilen der CDU bevorzugte Aufhebungslösung hingegen verlangt ein echtes Verfahren vor den Familiengerichten, in dem auch Fragen nach Unterhalt und Sorgerecht entschieden werden könnten. Diese letztere Lösung hätte den entscheidenden Vorteil, dass Kinder aus solchen Ehen etwaige Unterhalts- oder Erbschaftsansprüche ohne gerichtliche Verfahren sofort geltend machen könnten und nach Rückkehr in die Herkunftsländer so nicht um ihre Existenz fürchten müssten – Risiken, vor denen das DIMR, Sozialverbände und Hilfsorganisationen im Vorfeld explizit gewarnt hatten.
Frauen aus beiden Koalitionsfraktionen haben Ende Dezember eine Initiative gestartet, um in der Sache nun endlich zu einem Durchbruch zu kommen. Die Abgeordneten rund um Sabine Sütterlin-Waack (CDU) schlagen ein kleines Regelungspaket als Kompromiss vor, das ein Totalverbot der Kinderehen vorsieht und die Jugendämter zur Aufhebung bereits existierender Ehen und Inobhutnahme der betroffenen Kinder verpflichten soll. Dieses Verbot soll dann ausnahmslos für alle in Deutschland geschlossenen Ehen gelten, künftig gäbe es demzufolge keine Eheschließungen mehr mit unter 18-jährigen – ganz gleich welcher Herkunft. Die kleine, jedoch stetig wachsende Gruppe von Abgeordneten aus CDU und SPD wollen noch im Januar ihre Fraktionen von dem Vorschlag überzeugen und so schlussendlich eine Einigung herbeiführen. Dieser Vorschlag wäre zugleich ein begrüßenswertes Bekenntnis zur säkularen Rechtsordnung – einer Rechtsordnung, in der sich das Zustandekommen und das Ende einer Ehe nach weltlichen Normen entschieden wird, nicht nach Recht der Religionsgemeinschaften. Es wäre ein Vorschlag aus der Mitte des Parlamentes, über alle politischen Gräben hinweg. Wie erfolgreich ein solcher Vorschlag sein kann, zeigte zuletzt die Reform des Sexualstrafrechts vom Sommer 2016.