Eine querschnittsgelähmte Frau versucht, von ihrem Auto in den Rollstuhl umzusteigen. Problem: Das Auto steht auf einem Parkplatz, welcher mit Kopfsteinpflaster gepflastert ist. Der Rollstuhl rutscht weg, die Frau stürzt, bricht sich das Bein. Das Besondere an dem Fall: Der Parkplatz, um den es geht, war von der Stadt explizit als Behindertenparkplatz ausgewiesen worden.
Rein vom gesunden Menschenverstand her scheint die Sache klar zu sein: Wenn eine Stadt Menschen mit Behinderung nicht-behindertengerechte Parkplätze zur Verfügung stellt, dann ist dies mindestens fahrlässig und die Stadt muss bei etwaigen Verletzungen für den Schaden haften.
Oh nein, urteilten die Richter_innen der schleswig-holsteinischen Zivilgerichte: Die Geschädigte habe schließlich gewusst, dass Kopfsteinpflaster für Rollstuhlfahrer_innen ungeeignet ist. Sie hätte also den Parkplatz nicht benutzen dürfen. Da sie dies doch tat, treffe sie alleine die Schuld an dem Unfall. Schadensersatz, Schmerzensgeld? Nö.
In einer Entscheidung vom 24. März 2016 hat das Bundesverfassungsgericht nun entschieden, dass dieses Urteil die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verletzt.
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbietet die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. Eine solche Benachteiligung liegt aber nicht nur dann vor, wenn Maßnahmen die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung verschlechtern, sondern auch dann, wenn der Staat es unterlässt, ausreichende Fördermaßnahmen zu ergreifen, welche die behinderungsbedingten Einschränkungen der Menschen ausgleichen und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben ermöglichen. Der Staat ist also u.a. dazu verpflichtet, barrierefreie Parkplätze zur Verfügung zu stellen, sodass Menschen mit Behinderung öffentliche Einrichtungen in dem selben Umfang nutzen können wie nicht-behinderte Menschen.
Barrierefreiheit, Kopfsteinpflaster… um festzustellen, dass dies ein Widerspruch in sich ist, bedarf es keines Jurastudiums. Und auch wenn man ein weißes Männchen im Rollstuhl auf die Steine pinselt, bewirkt dies (seltsamerweise) nicht, dass plötzlich Rollatoren nicht mehr alle 2 Meter in den Fugen stecken bleiben, sehbehinderte Menschen nicht mehr ständig das Risiko eingehen müssen, über Kanten zu stolpern und – siehe oben – Rollstuhlfahrer_innen nicht mehr Gefahr laufen, mit ihrem Gefährt umzukippen.
Der Verstoß der Stadt Ratzeburg gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist eine Sache. Aber wieso haben auch die Gerichte, die der betroffenen Frau Schadensersatz und Schmerzensgeld verweigerten, gegen das Grundgesetz verstoßen?
Die Richter_innen stützen ihre Urteile, welche einen Anspruch der Betroffenen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verneinen, in erster Linie auf § 254 Abs. 1 BGB. Demnach hat der_die Beschädigte keinen oder nur einen reduzierten Anspruch auf finanziellen Ersatz, wenn er_sie ein Mitverschulden an dem eingetretenen Schaden trifft.
Das Amtsgericht Ratzeburg sowie das Landgericht Lübeck schlossen sich im vorliegenden Fall der Argumentation der Stadt an: Die Betroffene sei seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv, ja sie habe noch ein halbes Jahr vor dem Unfall an einer Protestaktion eben gegen die kopfsteingepflasterten Behindertenparkplätze teilgenommen. Sie wusste also von der Gefahr, als sie einen dieser Parkplätze wählte, habe sich ihr bewusst ausgesetzt. Um Schwierigkeiten beim Aussteigen aus dem Auto zu vermeiden, hätte die Frau ja einfach einen der „normalen“ Parkplätze wählen können. Diese sind nicht mit Kopfsteinpflaster ausgelegt.
Die Urteile fielen dann eindeutig aus: Kein Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld wegen weit überwiegendem Eigenverschulden.
Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Entscheidung mit einer fast schon klassischen Argumentation nun eine klare Absage erteilt: Die Grundrechte – und damit auch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG – sind nicht nur Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, sondern auch eine objektive Wertentscheidung. Sie müssen daher auch bei der Anwendung des Zivilrechts berücksichtigt werden, insbesondere bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe.
Und genau hier liegt der Grundrechtsverstoß der Zivilgerichte: Wann jemanden ein „Mitverschulden“ im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB trifft, ist ein auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff. Zwar ist es durchaus denkbar, dass die Rollstuhlfahrerin fahrlässig handelte, als sie den kopfsteingepflasterten Parkplatz wählte, ihre also zumindest eine Teilschuld zukommt, ihr nur ein reduziertes Schmerzensgeld zusteht. Die Richter_innen aber verneinten sämtliche Ersatzansprüche.
Dass Behindertenparkplätze gerade dazu bestimmt sind, von Menschen mit Behinderung benutzt zu werden? Irrelevant. Dass der Staat gegen seine Förderungspflichten aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verstößt, wenn er keine Behindertenparkplätze schafft? Egal. Dass es geradezu absurd ist, wenn eine Stadt Behindertenparkplätze schafft, die potentiellen Benutzer_innen dieser aber dann auffordert, diese nicht zu nutzen, da sie nicht behindertengerecht seien? Nichtdiskriminierend?
Doch, entschied Karlsruhe. Indem die Richter_innen aus Schleswig-Holstein jegliche Ersatzansprüche der Verunglückten abschmetterten, haben sie die Bedeutung und Tragweite des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verkannt und somit die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten verletzt.
Eine kleine Anekdote zum Schluss: Prozesskostenhilfe wurde der Betroffenen vom Landgericht Lübeck verwehrt, da ihre Klage auf Schmerzensgeld keine Aussicht auf Erfolg habe. Sie sei ja schließlich querschnittsgelähmt, ihre Beine also gefühllos. Auch ein komplizierter Beinbruch, wie sie ihn bei dem Unfall erlitten hatte, verursache ihr also keine Schmerzen. Wenn sie gelitten hätte wie ein „normaler“ Mensch mit Beinbruch, ja dann… Aber ohne Schmerzen gibt’s auch kein Schmerzensgeld.