Daten statt Taten? Verändertes Menschenbild in der Präventionslogik

Viele Bundesländer haben bereits neue Polizeigesetze erlassen und auch Berlin wird keine Ausnahme bleiben. Seit Monaten streitet die rot-rot-grüne Koalition nun schon darüber, wie das neue „Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz“ (ASOG) aussehen soll. Ein von der SPD Ende Februar veröffentlichter Entwurf sieht vor, dass – wie auch bereits in mehreren Polizeigesetzen anderer Bundesländer – schon eine „drohende Gefahr“ in gewissen Fällen zu polizeilichen Überwachungsmaßnahmen führen kann. Damit würden auch in Berlin die Voraussetzungen für den Ausbau präventiver Modelle der Straftatenbekämpfung geschaffen werden. Beunruhigend daran ist vor allem das der Kriminalprävention zugrundeliegende Menschenbild. Dieses misst Personen nicht mehr nur an ihren Handlungen, sondern vor allem an ihrer vermeintlichen „Gefährlichkeit“. Damit unterscheidet es sich stark von der klassisch-liberalen Vorstellung freier und selbstbestimmt handelnder Bürger*innen.

Die Logik der Prävention

In der Kriminalprävention geht es darum, künftige Straftaten vorherzusehen und auf Handlungsabläufe so einzuwirken, dass Verbrechen möglichst gar nicht erst passieren. Die Präventionsarbeit zeichnet sich also durch proaktives staatliches Handeln aus. Von den Sicherheitsbehörden wird nicht mehr bloß eine staatliche Reaktionauf rechtswidrige Handlungen und konkrete Gefahren gefordert, sondern auch die Vorhersage von Risiken und vorbeugendes Eingreifen. Voraussetzung für Prävention ist immer ein vermeintliches Wissen über die Zukunft. Nur wer glaubt zu wissen, wie der mögliche unerwünschte Zustand in der Zukunft aussieht, kann versuchen diesen zu verhindern. Die Geschichte der Prävention ist daher auch die Geschichte der Datenerhebung, der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Für die Arbeit der Sicherheitsbehörden bedeutet das, den Fokus immer mehr auf die Bewertung von Menschen und ihrer potentiellen Gefährlichkeit zu legen. Hierdurch sollen jene Personen identifiziert werden, die in Zukunft eine Gefahr für die Sicherheit darstellen könnten. Bei dieser Entwicklung drängt sich die Frage auf, ob die als „zukünftige Straftäter“ ausgemachten Personen dann überhaupt noch Akteur*innen im Sinne von bewusst handelnden Subjekten sind. Was bleibt von der Selbstbestimmtheit handelnder Bürger*innen, wenn es nicht mal mehr einer Handlung bedarf, um eine polizeiliche Überwachung zu rechtfertigen?

Die drohende Gefahr

Ganz besonders deutlich wird diese Entwicklung bei der Einführung der „drohenden Gefahr“ in Polizeigesetze. Die drohende Gefahr unterscheidet sich von der grundsätzlich für polizeiliche Maßnahmen geforderten konkreten Gefahr: für die konkrete Gefahr muss das bevorstehende Schadensereignis in sachlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht konkret benanntwerden können; dagegenreicht es für eine drohende Gefahr aus, wenn eine bestimmte Person als „gefährlich“ ausgemacht werden kann, auch wenn Zeit und Ort der vermuteten Gefahr unbekannt sind. Eine Einstufung als „gefährliche Person“ gibt den Polizeibehörden dann Anlass für präventive Maßnahmen. Hierunter fallen zum Beispiel intensive polizeiliche Beobachtungen Ausreiseuntersagungen, Abschiebungen oder auch polizeilicher Gewahrsam. Was genau eine „gefährliche Person“ (oder auch „Gefährder*in“) ausmacht, ist in den Polizeigesetzen nicht definiert.  Die Einstufung als Gefährder*in erfolgt bisher aufgrund einer Definition des Bundeskriminalamts („AG Kripo“): „Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.“ Bei Gefährder*innen lässt sich also gerade kein Zusammenhang zwischen Handlungen der betroffenen Person und einem künftigen Schaden herstellen. Vielmehr findet polizeiliches Handeln in diesem Fall seine Begründung allein in der Person des*der Gefährders*in.  Die Gefahr ist der Mensch selbst. Das ist neu.

Daten statt Taten

Zur Einstufung als Gefährder*in wird in Deutschland ein achtstufiges Prognosesystem verwendet, mit welchem aus einem konkreten Sachverhalt eine Schadenseintrittswahrscheinlichkeit errechnet werden kann. Mithilfe des neu entwickelten Systems „RADAR-iTE“ können Personen, über die eine gewisse Menge an Daten verfügbar ist, auf einer Risikoskala eingeordnet werden. Die Definitionsmacht darüber, welche Daten gesammelt werden, in welche Kategorien einsortiert wird und wer schließlich als wie gefährlich angesehen wird, liegt beim Bundeskriminalamt. Letztendlich wird die Einstufung als Gefährder*in der allgemeinen polizeilichen Erfahrung der Beamt*innen überlassen, welche die abschließende Einschätzung des von einer Person ausgehende Risikos vornehmen.

Der Mensch als Gefahr

Im Vertrauen auf die Vorhersagekraft von gewissen Datenmengen und neuen Prognosemodellen wird davon ausgegangen, das Sicherheitsrisiko, welches eine Person darstellt, bewerten zu können, ohne dass dafür noch die Begehung einer Straftat nötig wäre. Eine rechtswidrige Tat ist dann nicht mehr erforderlich, um staatliche Eingriffe wie auch einen Freiheitsentzug zu rechtfertigen. Damit greift der Staat in das Vorfeld der Handlung ein. Das widerspricht dem Bild des selbstbestimmt handelnden Menschen und reduziert Bürger*innen auf Risikofaktoren. In einem solchen Modell sind Handlungen nur in ihrer Vorhersehbarkeit von Bedeutung, da es gerade darauf ankommt, sie nicht zuzulassen. Da die Vorhersage von zukünftigen Handlungen aber immer nur auf Daten aus der Vergangenheit beruhen kann, sind Vorhersagemodelle dieser Art in hohem Maße anfällig für Diskriminierung und Reproduktion von Stereotypen. Wenn sich das Sicherheitsrecht also der möglichst lückenlosen Prävention von Risiken verschreibt, dann wird der Mensch selbst zur Risikoquelle, die es zu regulieren gilt. Hört sich nach Überwachungs-Dystopie an, ist aber möglicherweise schon näher an unserer Realität als wir uns vorstellen möchten.

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