Wo bleibt der Menschenrechtsschutz in Europa, wenn er dringend gebraucht wird? Zur Situation an der griechisch-türkischen Grenze

Es sind entsetzende Bilder und Nachrichten, die seit Februar 2020 in den Schatten des omnipräsenten Corona–Virus geraten. Europäer*innen wehren an der griechisch–türkischen Grenze mit Tränengas, Wasserwerfern und Blendgranaten Menschen ab, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen. Anfang März verkündete die griechische Regierung zeitlich begrenzt keine Asylanträge von Geflüchteten anzunehmen, die illegal die Grenze nach Europa passieren. Die Frage drängt sich auf: Warum werden die in Art. 2 EUV statuierten Werte „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, […] Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte, der Personen, die Minderheiten angehören“, nicht geachtet?

Welche Rechtsgrundlagen müssen bei der Bewertung der Situation berücksichtigt werden?

Griechenland ist Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und damit verpflichtet Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, Schutz zu gewähren. Nach der GFK müssen die Vertragsstaaten, Schutzsuchenden die Möglichkeit einräumen, einen Asylantrag zu stellen und ihre Asylgründe prüfen zu lassen. Die Entscheidung, keine Asylanträge anzunehmen, ist unvereinbar mit Art. 33 GFK. Hiernach gilt der sog. Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non–Refoulement-Gebot). Er besagt, dass Vertragsstaaten Menschen ohne jegliche Prüfung nicht in Länder aus- oder zurückweisen dürfen, in denen ihnen Gefahr für ihr Leben, Leib oder andere Menschenrechte droht. Asylsuchenden drohen mittelbar Menschenrechtsverletzungen dadurch, dass sie ohne ausreichende Asylrechtsprüfung in die Türkei zurückgewiesen werden und von dort aus weiter in das ursprüngliche Herkunftsland. Diese sogenannten Kettenabschiebungen gefährden die Asylsuchenden also unabhängig davon, ob die Türkei momentan als sicherer Drittstaat einzustufen ist.

Zudem sind alle europäischen Mitgliedstaaten dazu angehalten, die Grenzkontrollen stets unter Achtung der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durchzuführen. Das gilt unabhängig vom Grundsatz der staatlichen Souveränität, der die Staaten dazu ermächtigt, den Zugang zu ihrem Territorium zu kontrollieren und zu regulieren. Hohe Bedeutung kommt dabei dem absoluten und unaufhebbarem Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung gemäß Art.3 EMRK zu. Die exzessive Gewaltausübung gegen die Menschen an der griechisch-türkischen Grenze stellt nach Amnesty International „einen Verrat an der menschenrechtlichen Verantwortung dar, und gefährdet das Leben derjenigen, die gerade vor Gewalt fliehen“. Darunter befinden sich Personen, die aufgrund ihres Alters, ihrer physischen oder psychischen Fassung besonders schutzwürdig bzw. wehrlos sind: Kinder, Schwangere, ältere oder kranke Menschen.

Hervorzuheben sind schließlich die Schutz– und Beistandspflichten der Vertragsstaaten gegenüber unbegleiteten Minderjährigen, die sich aus Art. 22 UN–Kinderrechtskonvention ergeben. Durch die komplette Grenzschließung Griechenlands entfällt die Möglichkeit zur Prüfung individueller Situationen. Schutzsuchende werden pauschal ohne Anhörung abgeschoben. Dies stellt einen unzulässigen Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung auch sog. push–back–Taktik im Sinne des 4. Zusatzprotokolls der GFK  dar. Jegliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten an den EU–Außengrenzen müssen zudem der Charta der Grundrechte der europäischen Union (GRCh) gerecht werden. Art. 18 GRCh verweist in Bezug auf die Gewährleistung des Asylrechts unter anderem auf die GFK und auch Art. 19 I GRCh verbietet Kollektivausweisungen.

Rechtsprechung des EGMR

In diesem Zusammenhang kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der sich vielfach mit der Situation an den EU–Außengrenzen beschäftigt hat, eine bedeutsame Rolle zu. Obwohl sich der EGMR zunächst eindeutig gegen Kollektivausweisungen aussprach (vgl. EGMR, 23.02.2012 – 27765/09) entschied er jüngst in einem Urteil (EGMR, 13.02.2020 – 8675/15) über die Zulässigkeit sog. push–backs an der spanisch–marokkanischen Grenze. Hiernach sind Kollektivausweisungen zulässig, sofern Menschen versuchen auf illegalem Weg die Grenze nach Europa zu passieren, obwohl es ihnen möglich ist, das Land in welchem sie Asyl beantragen wollen, auch auf legalem Weg zu erreichen. Diese Rechtsprechung vermag nicht zu überzeugen. Sie schwächt die Rechte von Asylsuchenden enorm ab. Außerdem stellt sich die Frage, ob die Menschen überhaupt die Möglichkeit haben über einen legalen Weg nach Europa zu gelangen um bei einer staatlichen Behörde Asyl zu beantragen. Das Urteil steht im Widerspruch zu den genannten Normen der GFK und GRCh, sowie zu Art. 13 EMRK, wonach jeder Person ein effektiver innerstaatlicher Rechtsbehelf zusteht.

Welche Verantwortung trifft die EU?

Griechenland ist mit der aktuellen Situation an seinen Außengrenzen überfordert. Neben innerstaatlichen wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen, steht das Land aufgrund seiner geographischen Lage vor einer weiteren Herausforderung. Doch darunter dürfen die europäischen Rechte, Werte und vor allem Menschenrechte nicht leiden. Es bedarf dringend der Solidarität und aktiven Unterstützung aller EU–Mitgliedstaaten. Mitgliedstaaten, die nicht unmittelbar an dem europäischen Grenzübergang liegen, entziehen sich bislang aus der Verantwortung für diese Menschen in Not. Die Einreise und Möglichkeit auf ein faires Asylverfahren müssen über offizielle Grenzübergänge an allen geeigneten EU-Außengrenzstellen gewährleistet werden. Zurecht plädieren internationale humanitäre Organisationen gemeinsam für eine europäische Asylrechtsreform, die nicht auf Kosten der Menschen, Menschenrechte und der Grenzstaaten geht. Demnach solle die Flüchtlingspolitik auf einem Konsens über gemeinsame Ziele, faire Verantwortungsteilung und Grundwerte wie Flüchtlingsschutz, Achtung der Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit beruhen. Griechische Behörden müssen mithilfe finanzieller und organisatorischer Unterstützung der EU alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Neuankömmlinge, aber auch Helfer*innen, Vorort zu schützen und ausreichend zu versorgen.

2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung und Menschenrechte. Dieser Titel hat nicht nur eine ehrenhafte, sondern auch eine Symbol- und Vorbildsfunktion, insbesondere für außereuropäische Nationen die vehement Friedensverstoße begehen. Die europäischen Mitgliedstaaten haben die Pflicht ihren Werten und Rechten nachzugehen, sie zu beachten und zu verteidigen. Menschenrechte in Europa werden konkret durch die GFK, EMRK, ihre Zusatzprotokolle, der GRCh, sowie durch nationales Recht gewährleistet. Wir müssen diesen historisch erkämpften Menschenrechtsschutz auch dann gewährleisten, wenn er auf die Probe gestellt wird. Durch die Wahrung der Menschenrechte an der griechisch-türkischen Grenze, setzten wir uns nicht nur für europäische Werte ein, wir setzten damit auch ein eindeutiges Zeichen gegen das Erstarken von rechtem Gedankengut.

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