Über 100 Jahre, nachdem Generalleutnant Lothar von Trotha seinen Vernichtungsbefehl gegen die Herero erließ, ist bei einem New Yorker Gericht eine Klage gegen Deutschland anhängig. Sie stützt sich auf den „Alien Tort Claims Act“ . Am 25. Januar soll eine Anhörung stattfinden. Auch wenn ein erfolgreicher Ausgang unwahrscheinlich ist, erzwingt das Verfahren eine lang überfällige Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der deutschen Kolonialherrschaft.
Deutschlands rassistischer Kolonialkrieg im heutigen Namibia
Ausgangspunkt des Verfahrens sind die schweren Verbrechen, die während des Krieges gegen die Herero und Nama auf dem Boden des ehemaligen deutschen Protektorates Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begangen wurden. Zwischen 1904 und 1908 kamen unter dem Kommando von Generalleutnant Lothar von Trotha ca. 75.000 Menschen im Rahmen von Aufständen gegen die Kolonialmacht ums Leben. Schätzungsweise 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama starben. Die Kriegsführung Trothas zielte auf die vollständige Vernichtung. Er ließ große Teile der Herero Bevölkerung, die in die Omaheke Wüste geflohen waren, systematisch abriegeln und verdursten. Andere wurden erschossen oder in Konzentrationslager deportiert. Viele der Überlebenden mussten Zwangsarbeit verrichten oder waren in Lagern interniert (hier findet sich eine Chronik des Krieges).
Die Kläger_innen machen in ihrer Klagebegründung geltend, dass Trothas Vernichtungsbefehle „einem höheren Ziel“ dienen sollten. Nur die vollständige Ausrottung der „niederen Rassen“ konnte nach dieser rassistischen Anschauung zu einer Neuordnung der Welt und damit zu einer Auferstehung des deutschen Reiches führen. Damit lässt sich – trotz bestehender Unterschiede – eine Kontinuitätslinie zu den später unter Hitler begangenen antisemitischen und antiziganistischen Vernichtungspolitik im Zuge der Shoa und des Porajmos ziehen. Hitler bediente sich seinerzeit auch der Rhetorik der Kolonisatoren, welche schon Ende des 19. Jahrhunderts ein Konzept der „biologischen“ und „rassischen“ Überlegenheit der Deutschen ausformuliert hatten, um ihren brutalen Imperialismus zu legitimieren.
Deutschlands verspätete Anerkennung des Genozids…
Ein Aspekt, der den inzwischen als Völkermord anerkannten Genozid an den Herero und Nama, von der Shoa und dem Porajmos unterscheidet, ist der Prozess der staatlichen Aufarbeitung. Auch wenn die finanzielle Wiedergutmachung sowie öffentliche Aufarbeitung des Holocaust noch lange nicht abgeschlossen ist, hat Deutschland bis Ende 2015 im Rahmen der staatlichen Wiedergutmachungspolitik gegenüber jüdischen Überlebenden und Israel Zahlungen in Höhe von 73,422 Milliarden Euro geleistet. Entschädigungszahlungen an Roma und Sinti sowie die Klassifizierung der Tötungungen im Rahmen des Porajmos als Völkermord verweigerte die Bundesrepublik noch länger als es beim Holocaust der Fall war. Zum einen wurde dies damit gerechtfertigt, dass die deutschen Entschädigungsgesetze nur solche Personen erfassen würden, die ihren Wohnsitz im Gebiet des früheren Deutschen Reiches hatten, zum anderen wurde der Begriff der «Opfer nationalsozialistischer Verfolgung» so ausgelegt, dass nur Menschen, die aus «politischen, religiösen oder rassischen Gründen» verfolgt worden waren, erfasst wurden. Roma und Sinti fielen nach bundesdeutscher Auffassung lange Zeit nicht in diese Kategorie (Chronik).
Auf die deutschen Entschädigungsgesetze die während des nationalsozialistischen Unrechts erlassen wurden, können auch die Hinterbliebenen der Opfer des Kolonialismus keine Ansprüche zurückführen. Die Verabschiedung eines solchen Gesetz steht bis heute aus.
Die Verwendung der Worte „Genozid“ und „Kriegsverbrechen“ im Sinne der UN-Völkermord Konvention verwendete die deutsche Regierung von offizieller Seite im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Namibia erstmals im Jahre 2015. Eine Entschuldigung folgte im Folgejahr.
…und seine Folgen: Ein Anspruch auf Schadensersatz und Beteiligung an der Wiedergutmachung?
Vertreter_innen der Herero aus Namibia hatten daraufhin im Januar 2017 eine Sammelklage gegen Deutschland beim New Yorker Bezirksgericht eingereicht, sie fordern Reparationen in Millionenhöhe für die Nachkommen der im Genozid Ermordeten. Das passiert nicht zum ersten Mal. Schon 2001 verklagten Herero-Organisationen Deutschland auf Grundlage des „Alien Tort Claims Act“ (ATS) vor einem amerikanischen Gericht und verlangten Schadensersatz wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und der Verletzung des Sklavereiverbots. Der ATS, auf den sich auch die aktuelle Klage stützt, regelt, dass Ansprüche vor amerikanischen Zivilgerichten auch geltend gemacht werden können, wenn die Beteiligten nicht US-amerikanischer Nationalität sind und die Ereignisse, welche die Anspruchsgrundlage darstellen, nicht auf US-Boden stattgefunden haben. Voraussetzung ist, dass gegen Völkerrecht oder Staatsverträge verstoßen wurde. Die erste Klage wurde allerdings mit dem Verweis auf die Staatenimmunität Deutschlands abgewiesen.
Seitdem hat Deutschland auf staatlicher Ebene Versöhnungsgespräche mit der Namibischen Regierung aufgenommen – jedoch stets unter Ausschluss von Vertreter_innen der Herero und Nama. Dieser Ausschluss ist unter anderem Gegenstand der aktuellen Klage. Konkret begehren die Kläger_innen zwei Dinge: Erstens Entschädigungen für den Völkermord und die Enteignung ihres Landes durch die deutsche Kolonialregierung zwischen 1885 und 1909, und zweitens die Beteiligung an den Verhandlungen. Sie berufen sich auf Art. 18 der UN-Erklärung für die Rechte Indigener Völker von 2007, der vorsieht, dass diese durch selbst gewählte Vertreter_innen an Entscheidungsprozessen mitwirken dürfen, von denen sie direkt betroffen sind. Derartige Erklärungen der Generalversammlung gelten in weiten Teilen als Völkergewohnheitsrecht oder indizieren zumindest dessen Entstehung.
Deutschland gibt zwar zu, die Verhandlungen bisher bewusst ohne die Repräsentant_innen der Opfer durchgeführt zu haben; dafür gebe es jedoch gute Gründe. Es wird angedeutet, dass dieses Verhalten Teil einer Abmachung zwischen dem Staat Namibia und Deutschland ist. Schließlich wird betont, dass durch großzügig gewährte Entwicklungshilfe bereits eine Wiedergutmachung geleistet wurde. Ein Argument, dass der Historiker Jürgen Zimmerer für falsch hält: „Namibia bekam zwar überproportional viel Entwicklungshilfe, allerdings kam bei den Herero davon nichts an.“
Ein erfolgreicher Ausgang der Klage bezogen auf die Reparationszahlungen ist dennoch unwahrscheinlich. Wichtige juristische Fragen wie das Rückwirkungsverbot oder die hoheitliche Immunität Deutschlands werden in der Klageschrift fast vollständig außer Acht gelassen. Erst 2012 stellte der Internationale Gerichtshof fest, dass italienische Gerichte die staatliche Immunität Deutschlands ignorierten, wenn sie die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadensersatzleistungen an Opfer nationalsozialistischer Verbrechen verurteilten.
Höher sind die Aussichten auf Erfolg allerdings bei dem Antrag auf mehr Beteiligung der Opfergruppen an den Verhandlungen. Denn sowohl Deutschland als auch Namibia haben für die UN-Erklärung für die Rechte Indigener Völker gestimmt.
Es geht um viel mehr als Geld – die symbolische Kraft eines Gerichtsverfahrens
Doch es geht um viel mehr als die finanzielle Kompensation der Gruppen. So pflegen viele der Nachkommen noch immer einen regen Austausch mit den Geistern der Ahnen. Sie handeln gewissermaßen als Vertreter_innen der im Völkermord Umgekommenen, damit diese zur Ruhe kommen können. Dies gelingt durch die Aussöhnung mit den Nachfahren der Kolonialmacht. Eine Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, Gayatri Spivak, hat vor allem die Situation von gesellschaftlich “Marginalisierten” beforscht und stellte dabei heraus, dass ganze Bevölkerungsgruppen oft sprachlos seien angesichts übermächtiger Herrschaftssysteme. Eine ihrer Forderungen ist es, diese “subalternen” Gruppen endlich selber sprechen zu lassen, anstatt nur über sie zu sprechen. Die Einbeziehung in die Verhandlungen würde den Herero und Nama endlich diese so lange geforderte “Stimme” geben.
Ein positiver Ausgang bezüglich der Schadensersatzforderungen könnte einen Dominoeffekt bei weiteren ehemaligen europäischen Kolonien auslösen. Tansania hatte bereits Anfang diesen Jahres eine Klage gegen Deutschland erwogen. Der von 1905-1907 in Tansania herrschende Maji-Maji Krieg forderte 300.000 Opfer- also noch mehr als auf namibischer Seite. Auch in Kamerun und Togo – beide zeitweise unter deutscher Kolonialherrschaft – gab es unzählige Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung, die bis heute nicht aufgearbeitet wurden.
Als der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert den Völkermord an den Herero und Nama auf Drängen verschiedener Akteure 2015 erstmalig als solchen betitelte, sendete er nicht nur ein wichtiges Signal an die Herero und Nama, sondern stieß auch die erinnerungspolitische Diskussion innerhalb Deutschlands an. Seitdem kamen zahlreiche Zivilinitiativen und Museumsausstellungen (zum Beispiel hier) zustande. Doch das reicht nicht. Nach wie vor ist der Völkermord kein Pflichtstoff auf den deutschen Lehrplänen und wird auch sonst in der Öffentlichkeit wenig diskutiert. Das Verfahren ist also auch mit Blick auf den öffentlichen Diskurs von größter Bedeutung.