Viele Opfer von Femiziden waren im Vorfeld nicht nur einer Spirale häuslicher Gewalt ausgesetzt, sondern haben sich auch bereits mehrfach an die Polizei gewandt. Dass es trotzdem so häufig zur Tat kommt, zeigt: Der Opferschutz ist in Deutschland nach wie vor lückenhaft. Kann strategische Prozessführung dazu beitragen, dass Frauen durch staatliche Stellen besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt werden? Dieser Frage stellte sich das Team von JUMEN e.V., darunter Kaja Deller die das Projekt „Genderstereotype in der Justiz“ leitet und Nina Fischnaller, die in diesem Projekt mitarbeitet, gemeinsam mit Christina Clemm, Anwältin für Familien- und Strafrecht, Linda Greuter, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Legal Gender Studies der Johannes Kepler Universität Linz und Johanna Nelles, Exekutiv-Sekretärin der Istanbul-Konvention des Europarats, in einer Diskussion am 5. März 2024 im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin.
Seit 2018 ist die sog. Istanbul-Konvention in Deutschland geltendes Recht. Dieser völkerrechtliche Vertrag verpflichtet die Vertragsparteien dazu, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu verfolgen. Mobilisieren lässt sich die Istanbul-Konvention etwa im Rahmen einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) überwacht. In einer Reihe von Verfahren haben gewaltbetroffene Frauen bereits erfolgreich eine Verletzung der EMRK gegenüber Unterzeichnerländern der Istanbul-Konvention geltend gemacht. Das hat in den vergangenen Jahren auch dafür gesorgt, dass der politische Druck aufrecht erhalten bleibt, den Schutz vor geschlechterspezifischer Gewalt gegen Frauen zu verbessern.
Über eine Beschwerde gegen Deutschland zu geschlechtsspezifischer Gewalt haben die Richter*innen in Straßburg bislang nicht entschieden. Gleichzeitig ist die Bilanz erschreckend: Die Zahl von Frauen, die in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet werden, hat zugenommen – beinahe jeden Tag ein Versuch, fast jeden dritten Tag eine vollendete Tötung – so die vielfach zitierte Aussage von Bundesministerin Lisa Paus am Rande der Auswertung der Polizei-Statistik für das Jahr 2021.
Mangelhafte Schutzstrukturen bekämpfen?
Außer Frage steht, dass die Strukturen, die Frauen in Deutschland vor Gewalt schützen sollen, erhebliche Mängel aufweisen. Die Expert*innen von GREVIO, dem Europarats-Gremium, das die Umsetzung der Istanbul-Konvention überwacht, stellen in ihren für Deutschland bindenden Empfehlungen fest: Es fehlt an einer gemeinsamen Strategie für effektiven geschlechtsspezifischen Gewaltschutz; damit befassten staatlichen Stellen mangelt es an personellen und finanziellen Kapazitäten. Eine wirksame Implementierung der Istanbul-Konvention scheitert nicht zuletzt am fehlenden Bewusstsein aller Verfahrensbeteiligten dafür, wozu sie der völkerrechtliche Vertrag verpflichtet.
Deshalb: Welche Schutzansprüche haben Betroffene konkret? Wie und vor welcher Instanz können Schutzansprüche effektiv durchgesetzt werden? Und wo genau liegen die „Fehler“ im Verfahren? Auf diese Fragen versucht das Team von JUMEN e.V. Antworten zu finden und durch strategische Prozessführung dazu beizutragen, dass das deutsche Recht Frauen besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützt.
„Strategische Prozessführung verstehen wir als den Versuch, über höchstgerichtliche Urteile gesellschaftlichen Wandel für eine Vielzahl von Menschen zu erstreiten – den Versuch, Gerichte als politische Räume zu nutzen und so neue Möglichkeiten aufzuzeigen, Grund- und Menschenrechte faktisch abzusichern“, sagt Kaja Deller.
Amtshaftung: Den Staat für strukturelle Defizite zur Verantwortung ziehen
In Amtshaftungsprozessen sieht das JUMEN-Team eine Möglichkeit, im Gerichtssaal effektiveren geschlechtsspezifischen Gewaltschutz in Deutschland zu erstreiten. Der Fokus soll dabei auf der unzureichenden Anwendung der Vorschriften der Istanbul-Konvention durch staatliche Stellen in Deutschland liegen. Konkret könnte das etwa bedeuten, dass ein Bundesland Schadenersatz leisten müsste, wenn der Tötung einer Frau Meldungen häuslicher Gewalt vorausgingen, die zuständigen Polizeibehörden aber nicht – oder zumindest nicht hinreichend tätig geworden sind.
Die Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) regelt Schadensersatzpflichten des Staates für rechtswidriges schuldhaftes Verhalten von Beamt*innen oder sonstigen öffentlichen Bediensteten. Die Amtshaftung eignet sich besonders gut, um strukturelle Defizite zu adressieren, denn Anspruchsgegner*innen sind gerade nicht die einzelnen Behördenmitarbeitenden. An ihrer Stelle müssen ihre Dienstherrinnen – Kommunen, Länder oder der Bund – den entstandenen Schaden ersetzen. Sie sind es, die öffentliches Personal auswählen, ausbilden und ausstatten. Sie organisieren auch die Zusammenarbeit staatlicher Stellen und den Informationsfluss zwischen ihnen. Es sind genau diese strukturellen Voraussetzungen, in denen auch der Schlüssel zu einem besseren geschlechtsspezifischen Gewaltschutz liegt.
Gemischte Erfolgsaussichten vor deutschen Gerichten
Amtshaftungsverfahren sind eine besondere Herausforderung: Wozu die beteiligten staatlichen Stellen im Einzelnen verpflichtet sind, ist häufig unklar, ebenso unsicher ist daher oft, wann genau sie eine ihrer Pflichten verletzt haben. Am schwierigsten aber ist, im konkreten Einzelfall nachzuweisen, dass die behördliche Pflichtverletzung auch der Grund für den eingetretenen Schaden war.
Die Anknüpfungspunkte für behördliches Fehlverhalten sind zahlreich: Zur Bestimmung des Begriffs „Amtspflicht“ wird grundsätzlich an die persönlichen Verhaltenspflichten der Beamt*innen angeknüpft, die sich aus allen jeweils einschlägigen Rechtsquellen ergeben können. In der Rechtsprechung haben sich darüber hinaus einzelne Fallgruppen herausgebildet, so z.B. dass Beamt*innen alle für eine Entscheidung notwendigen Informationen ermitteln müssen (sorgfältige Sachverhaltsermittlung), die ihnen zustehenden Handlungsspielräume richtig nutzen (fehlerfreie Ermessensausübung) und in ihren Entscheidungen dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden (sachgerechte Entscheidung).
Dass in dem behördlichen Fehlverhalten tatsächlich der unmittelbare Grund für den eingetretenen Schaden liegt, die sog. Kausalität, ist in der Praxis besonders schwierig nachweisbar. In Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen werden Schäden in der Regel durch behördliches Unterlassen – nicht durch aktives Handeln – herbeigeführt. Das ist etwa denkbar, wenn die zuständigen Stellen trotz mehrfacher Anzeigen häuslicher Gewaltvorfälle untätig geblieben sind. Die Kausalität ist gerade deshalb so schwer zu beweisen, weil sich in Fällen von Unterlassen der rechtliche Bewertungsmaßstab verändert: Das Unterlassen wäre nur dann kausal für den Erfolg, wenn die rechtlich gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.
Einen Amtshaftungsanspruch geltend zu machen, könnte etwa dann schwieriger sein, wenn Gewaltopfer ihnen zur Verfügung stehende Rechtsschutzmöglichkeiten nicht erschöpfen oder sich nach der letzten Anzeige erneut mit dem Täter treffen. In solchen Fällen könnten staatliche Anspruchsgegnerinnen vortragen, die sog. „Kausalkette“ zwischen dem behördlichen Unterlassen und dem entstandenen Schaden sei unterbrochen. In der Tat könnte es ein derartiges Verhalten des Opfers schwieriger machen, die Frage zu beantworten, ob der „Schaden“, etwa ein Femizid, ausschließlich auf das Nichteingreifen der Behörde zurückzuführen ist. Daran muss ein Amtshaftungsanspruch jedoch nicht scheitern: Aus menschenrechtlicher Perspektive ließe sich etwa entgegenhalten, dass die besonderen Dynamiken häuslicher Gewalt auch bei der Beurteilung von Kausalität berücksichtigt werden müssen, wie der EGMR im Fall Kurt v. Österreich betont.
Neben diese rechtlichen Problemkomplexe treten im Rahmen von strategischer Prozessführung tatsächliche Herausforderungen: Auch Amtshaftungsprozesse können für Klägerinnen hochgradig belastend sein können. Die für häusliche Gewalt typische Gewaltspirale findet in Gerichtsverfahren nur mangelhaft Berücksichtigung. Das zeigt sich sowohl in den bestehenden Normen als auch in der derzeitigen Rechtspraxis; beide werden den besonderen Strukturen geschlechtsspezifischer Gewalt nicht hinreichend gerecht. Hierzu tragen auch Sensibilisierungsdefizite in der Justiz bei, die nicht zuletzt auf eine unzureichende Schulung von Richter*innen zurückzuführen sind.
Trotz der hohen rechtlichen und tatsächlichen Hürden eignen sich Amtshaftungsverfahren besonders gut, um strategisch auf strukturelle Probleme hinzuweisen. Sie verschieben – im Gegensatz zum Strafprozess – den Fokus vom Individualtäter auf das System, das die Tat geschehen lässt. Dabei müssen allerdings die Belastungen, die ein solches Verfahren für die Klägerinnen darstellt, zentral Berücksichtigung finden.
Potential vor dem EGMR
Auf europäischer Ebene könnten derartige Verfahren erfolgreicher verlaufen, da die Bewertungsmaßstäbe andere sind. Die Richter*innen des EGMR haben in ihrer Entscheidung im Fall Kurt v. Österreich konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen staatliche Stellen ihre Pflicht verletzen, Frauen gegen häusliche Gewalt zu schützen: Staatliche Stellen müssen unverzüglich auf Vorwürfe häuslicher Gewalt reagieren, eine selbstständige und proaktive Risikoabschätzung vornehmen und – sofern die Beamt*innen ein Risiko weiterer Gewalteskalation feststellen – vorbeugend geeignete, verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, um das Risiko einzudämmen. Tun sie dies nicht, kommt ein Anspruch auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Betracht.
Allerdings haben die Mitgliedsstaaten des Europarats und insbesondere deren Gerichte, für die die Rechtsprechung des EGMR bindend ist, große Spielräume bei der Umsetzung der Entscheidungen des Gerichtshofs. Insbesondere bei der Wahl geeigneter Mittel, um Gewaltschutz zu gewährleisten. Das ist nicht zuletzt der Grund für den derzeitigen Flickenteppich von Regelungen auf Landesebene.
Ein erfolgreiches Amtshaftungsverfahren vor dem EGMR wäre dennoch ein wichtiger Impuls für die deutsche Debatte – und würde so in jedem Falle den Druck auf Entscheidungsträger*innen erhöhen, geschlechterspezifischem Gewaltschutz endlich wirklich einheitlich und systematisch in Angriff zu nehmen.
Kaja Deller resümiert: „Wenn die Richter*innen des EGMR in einem Amtshaftungsverfahren feststellen, dass die Vertragsparteien die Vorgaben der Istanbul-Konvention einhalten müssen und darlegen, welche Vorgaben Deutschland nicht einhält, dann könnte uns das dem effektiven Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt einen wichtigen Schritt näherbringen.“