Neue Hoffnung auf ein Recht auf Wohnen? – Beitritt zum Fakultativprotokoll des UN-Sozialpakts

Der deutsche Gesetzgeber hat am 04.01.2023 (BGBl. II 2023, Nr. 4 12.01.2023) die Voraussetzungen für die Ratifikation des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geschaffen (UN-Sozialpakt). Das Fakultativprotokoll eröffnet Personen, die sich in einem ihrer Rechte aus dem Sozialpakt verletzt sehen, die Möglichkeit eines individuellen Beschwerdeverfahrens.  Durch sogenannte Mitteilungen können sie sich an den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wenden. Dieser war in Vergangenheit besonders aktiv zum Thema Recht auf Wohnen. Ein solches ist in Art. 11 Abs. 1 des UN-Sozialpakts ausdrücklich verbürgt. Der Beitrag geht aus Anlass der anstehenden Ratifikation daher der Frage nach, ob man sich Hoffnung auf neue Entwicklungen in der Debatte um ein Recht auf Wohnen in Deutschland machen darf.

I. Das Recht auf Wohnen in Europa und Deutschland

Anders als im UN-Sozialpakt ist ein einklagbares Recht auf Wohnen verfassungsrechtlich in keinem Mitgliedsstaat der europäischen Union vorgesehen (siehe dazu: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages zum Recht auf Wohnen). Auch auf supranationaler Ebene ist es in Europa um ein Recht auf Wohnen nicht gut bestellt. In der EMRK ist es nicht ausdrücklich vorgesehen. Und der EGMR hat sich einem Recht auf Wohnen (als einklagbarem Recht auf Unterkunft) in seiner Rechtsprechung verschlossen  (EGMR Chapman v UK, No. 27238/95 Rn. 99), ohne sich offen für die zukünftige Entwicklung eines entsprechenden europäischen Konsens zu zeigen (anders z.B. als bei Fragen rund um das Thema sexuelle Orientierung). Auch das Grundgesetz sieht kein Recht auf Wohnen vor. Etwaige Verbürgungen in den Landesverfassungen (z.B. Art. 28 VvB) sind derweil nicht einklagbar, da sie als bloße  Staatszielbestimmungen verstanden werden. Jetzt also Hoffnung durch ein Individualbeschwerdeverfahren zum eigentlich „schwachen“ UN-Ausschuss? Dafür gibt es tatsächlich einige gute Gründe.

II. Das Recht auf Wohnen in der „Rechtsprechung“ des Ausschusses

Zunächst legt der Ausschuss Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt weit aus. Das „right to adequate housing“ schließt danach nicht nur Mieter*innenschutz und einen bestimmten Infrastrukturstandard ein, sondern auch die Bezahlbarkeit des Wohnraums, seine Bewohnbarkeit und Barrierefreiheit. Selbst die Umgebung und Modernisierungen sollen erfasst sein (CESCR, Allgemeine Bemerkung Nr. 4 „The Right to Adequate Housing“, E/1992/23 Rn. 8ff.). Schon jetzt mahnt der Ausschuss die Durchsetzung des derart weit verstandenen „Rechts auf Wohnen“ regelmäßig im Staatenberichts-Verfahren an – zuletzt im Rahmen des VI. Berichtszyklus ab 2016 ausdrücklich auch gegenüber Deutschland.

Konkret wurde darin auf das Bedürfnis für mehr sozialen Wohnungsbau und bessere Bezahlbarkeit hingewiesen. Deutschland sollte die Transferleistungen in Verbindung mit Wohnraum erhöhen, aktiv obdachlose Menschen durch entsprechende Einrichtungen schützen und mehr Daten zur Obdachlosigkeit erfassen. Zudem sollte die Spekulation mit Wohnraum in Ballungsräumen beschränkt werden (CESCR, Concluding Observations Germany, E/C.12/DEU/CO/6 Rn. 55). Es ist zu erwarten, dass der Ausschuss auch im anstehenden VII. Zyklus ab Oktober 2023 die Wohnsituation in Deutschland wieder kritisch in den Blick nehmen wird.

Eine zentrale Rolle spielt das Recht auf Wohnen schließlich auch in den Individualbeschwerden, die vor den Ausschuss gebracht werden. Immerhin 191 der aktuell 196 anhängigen Mitteilungen haben mit dem Recht auf Wohnen zu tun. In der weit überwiegenden Mehrheit (189 der Mitteilungen) hängen diese mit Räumungen zusammen. Von den Mitteillungen erreichen zwar nur wenige das Entscheidungsstadium. Auch hier ist aber mit 9 von insgesamt 12 Begründetheitsentscheidungen (sog. Ansichten) des Ausschusses die große Mehrheit zum Recht auf Wohnen ergangen. Dabei hat der Ausschuss also eine nicht vollkommen vernachlässigbare „Rechtsprechung“ entwickelt. Interessant sind zum Beispiel die Ansichten in AlbanGoumari und Wouters, wonach Räumungen unterschiedlich beurteilt werden sollen, je nachdem, ob eine natürliche Person Eigentümerin des Wohnraums ist („private individual“) oder ein Finanzinstitut („financial institution“). Eine entsprechende Unterscheidung könnte im deutschen Zivilrecht beispielsweise für die Auslegung von § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB fruchtbar gemacht werden. Auch die Ansicht des Ausschusses in Djazia/Bellili, wonach alternative Unterbringungen nicht unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden dürfen, dass die Familie getrennt lebt (Djazia/Belilli, Rn. 15.4.), verdient für die Auslegung von § 574 Abs. 2 BGB Beachtung.

III. Grund zur Hoffnung?

Durch das Fakultativprotokoll werden inhaltlich keine neuen menschenrechtlichen Verpflichtungen des deutschen Staates begründet. Schon Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt und die Allgemeinen Bemerkungen sollten im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung in das deutsche Recht einfließen. Durch ein Individualbeschwerdeverfahren könnte sich die Durchsetzbarkeit der bestehenden Verpflichtungen aber verbessern. Das Fakultativprotokoll bietet zumindest ein neues Forum für die Geltendmachung eines Rechts auf Wohnen, das diesem gegenüber sehr freundlich eingestellt ist. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Artikel 3 Nr. 2 lit. a) Fakultativprotokoll), was in Deutschland ggf. auch das Bundesverfassungsgericht einschließen kann, erschwert zwar den Weg dorthin. Dennoch könnten es sich vor für strategische Prozessführung als günstiges Forum herausstellen.

  1. Einzelfallentscheidungen

Ein möglicher Vorteil des Mitteilungsverfahren könnte darin liegen, dass es zu konkreten Einzelfallentscheidungen führt. Diese haben für deutsche Gerichte möglicherweise mehr Überzeugungskraft als die abstrakt-generellen Feststellungen in den Allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses. Immerhin haben sie quasi-gerichtlichen Charakter oder in den Worten des Menschenrechtsausschusses: die Ansichten des Ausschusses „exhibit some important characteristics of judicial decisions“ (HRC General Comment No. 33, Rn. 11). Zudem gehen die Entscheidungen des Ausschusses ganz konkret auf das Verhältnis sozialer Menschenrechte und innerstaatlichem Privatrecht ein. Eine stärker an Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt orientierte Auslegung des deutschen Rechts würde Gerichten somit einfacher gemacht. Schon allein deshalb könnte sich der Beitritt zum Fakultativprotokoll auch ohne neue inhaltliche Pflichten positiv auf die innerstaatliche Menschenrechtsdurchsetzung auswirken.

  1. „Black-Box“-Nationalstaat

Schließlich hat der Ausschuss auch dann einen eklatanten Vorteil, wenn der gesetzliche Rahmen eine menschenrechtskonforme Auslegung nicht ermöglicht: die innerstaatliche Kompetenzverteilung kann ihm bei seiner Kritik daran egal sein. Als Überwachungsorgan für einen internationalen Vertrag prüft der Ausschuss die Völkerrechtswidrigkeit des deutschen Handelns. Innerstaatliche Kompetenzverteilungen sind aber keine Rechtfertigung für Völkerrechtsbrüche. Interessanterweise hielt der Ausschuss es sogar in der Vergangenheit schon für nötig, den deutschen Staat darauf hinzuweisen, dass der Föderalismus nicht von den Verpflichtungen aus dem Sozialpakt entbindet (CESCR, Concluding Observations Germany, E/C.12/DEU/CO/6 Rn. 5f.). So könnte auf dem internationalen Weg die innerstaatliche Kompetenz-Blockade aus regulatorisch tätig werdenden Ländern ohne Gesetzgebungskompetenz und dem passiven Bund mit Gesetzgebungskompetenz durchbrochen werden, wie sie sich zuletzt mit Blick auf den Berliner Mietendeckel gezeigt hat.

Fazit

Hoffnung auf ein unmittelbar einklagbares Recht auf Wohnen im Sinne eines Anspruchs auf verfügbaren und bezahlbaren Wohnraum wird man sich auch jetzt nicht machen können. Trotzdem verspricht die Ratifikation, Bewegung in die Debatte um entsprechende Rechte zu bringen. Hoffnung macht auch das „naming-and-shaming“-Potential des Fakultativprotokolls. Die Allgemeinen Bemerkungen sind ungeachtet ihrer Bedeutung für eine völkerrechtsfreundliche Auslegung nicht gerade öffentlichkeitswirksam. Einzelfallentscheidungen des Ausschusses könnten hingegen mediale Aufmerksamkeit generieren und für Sensibilisierung im innerstaatlichen politischen Diskurs sorgen. Bei aktiver Prozessführung in diesem Bereich ist damit zumindest die Hoffnung auf stärkeren Mieter*innenschutz durch mehr völkerrechtliche Einflüsse in der Auslegung des innerstaatlichen Privatrechts durchaus berechtigt.

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